Heute wachte der HerrBert wieder so lebensfroh auf, wie es meist seine Art ist. Und auch die Reiserin scheint sich in ihr Dasein als Camperin gefügt zu haben und sprang keine Stunde später tagesfertig aus dem handtuchgroßen, aber immerhin vorhandenen WC- und Duschbereich unseres Straßenbären, bereitete das Frühstück auf dem kleinen Vorplatz, der zu unserem Stellplatz gehört, und schwang anschließend den Besen. Das tägliche Ausfegen unserer mobilen Wohnung hatte sie sich zur Aufgabe gemacht – wie auch das geruchstechnische Aufwerten des Gefährts durch beherztes Versprühen von Luftreinigern. Allmählich kommt sie im Camperleben an.
HerrBert hatte unterdessen schon routiniert den Frischwassertank gefüllt, den Abwassertank geleert und den Straßenbären vom Stromnetz genommen. Es ging los in den neuen Tag! Als erstes wollten wir uns die architektonisch spektakuläre, weil im modernistischen Betonstil direkt in den Fels oberhalb von Sedona hineingebaute Chapel of The Holy Cross ansehen. Die Frage war nur: Wie? Beziehungsweise: Wo bleibt der Straßenbär so lange? Denn drei Dinge gingen aus den diversen Beschreibungen dieser Sehenswürdigkeit hervor: 1. Wer diese Kirche nicht gesehen hat, hat Sedona nicht gesehen. 2. Wer mit einem RV unterwegs ist, hat ein Problem, weil es für sie nirgendwo in der Nähe der Bergkirche Parkplätze gibt. 3. Egal wo man parkt, der Aufstieg zur Kirche ist so anstrengend, dass zwischen Parkplatz und Eingang kleine Golfmobile verkehren, die die Besucher nach oben bringen.

Kurzzeitig verfiel HerrBert deshalb zurück in die Düsterstimmung von gestern und wollte das Unterfangen kurzerhand absagen. Aber da hatte er nicht mit der Reiserin gerechnet. „Ach was“, meinte sie resolut. „Am unteren Ende der Straße ist eine andere Kirche und da gibt es einen riesigen, leeren Parkplatz. Da fahren wir hin, und wenn jemand fragt, gucken wir christlich und sagen, wir wollen diese Kirche besuchen.“ HerrBert war noch nicht überzeugt. Aber die Reiserin hatte schon ein Blatt Papier gegriffen und vermerkte darauf Datum, Zeit, unsere geplante Rückkehr, unsere Telefonnummer und einen Dank, dass wir hier parken dürfen. Hinter die Windschutzscheibe gelegt und losgestiefelt.
Hier zeigte sich dann mal wieder, dass Amerikaner ein anderes Verständnis davon haben, was „steil“ und „anstrengend“ ist. Denn tatsächlich erreichten wir die Kirche gemütlich zu Fuß in einer Viertelstunde, davon zehn Minuten auf einem weiträumigen, ebenmäßigen Gehsteig und fünf Minuten auf einem sanften Weg durch das Gebüsch hinauf zum Hügel, auf dem die Kapelle des Heiligen Kreuzes steht. Mehrmals hielt ein Golfwägelchen neben uns und wir wurden gefragt, ob wir auch wirklich zu Fuß gehen wollen und ob wir „okay“ seien. „Die halten uns jetzt bestimmt für Pilger, die extra Sühne leisten“, freute sich die Reiserin. Dabei wäre uns nichts fremder als das.

Der kleine Kirchenbau, 1956 eröffnet, ist spektakulär. In perfekter Harmonie in die Landschaft gebaut, hinter dem Altar nur eine Glasscheibe, durch die man auf die roten Felsen von Sedona sehen kann. Während HerrBert sich nach ausführlicher Betrachtung wieder ins Freie setzte, begab sich die Reiserin in den Geschenkshop im Untergeschoss, wo sie, obgleich sowas von nicht katholisch, diverse Heiligenbildchen und Amulette gegen allerlei Gebrechen erwarb.

Dann ging es nach Downtown Sedona, das hier Uptown heißt. Entlang der Hauptstraße sind Geschenk- und Klamottenläden sowie Restaurants aufgereiht, und zwar so, dass man einmal auf jeder Seite an allen entlanglaufen muss, weil man nur an wenigen, vorgesehenen Stellen die Straße überqueren kann – eigenmächtiges Abbrechen der Shoppingroute wird durch eine durchgängige Sperre in der Mitte der Straße verhindert. Wir fügten uns und klapperten die üblichen Geschäfte ab. Die Reiserin erwarb einen Autobedufter in Fliegenpilzform. Seither riecht der Straßenbär nach Moschus.

Im strahlenden Nachmittagslicht machten wir uns auf den Weg zurück nach Norden, unsere nächste Station heißt Page. Auf der Route hatte HerrBert aber noch einen wenig bekannten Canyon ausfindig gemacht, den man nur durch ausgeklügeltes Zusammenfassen diverser vager Wegbeschreibungen im Internet finden können soll: Kurz hinter dem Ort Tuba auf die Nebenstraße 264 abbiegen, dort genauestens auf die Meilenmarkierungen gucken und bei Meile 337 nach einer Viertelmeile auf einen unausgeschilderten Weg nach links in die Prärie abbiegen. Dort durch ein nicht benanntes Tor, und die Augen nach einer Windmühle offenhalten. An der Weggabelung den rechten Pfad wählen und an einem Viehzaun entlang, bis irgendwann der Canyon kommt. Und bloß nicht zu weit an die Kante laufen, denn der Grund ist porös, und da es ein Geheimtipp ist, wird sich auch niemand finden, der einen rechtzeitig retten kann.

So zählten wir Meilen und Abzweige – und bemerkte, dass wir uns die Windmühle, die in allen Beschreibungen als zuverlässigste Wegmarkte diente, völlig falsch vorgestellt hatten. Nirgendwo war ein gemütlicher holländischer Turm mit riesigen Flügeln zu sehen, wohl aber tauchte irgendwann in den Weiten der kargen Prärie ein storchenartig schlanker Stab auf, an dem sich vor dem riesigen, arizonischen Himmel eine Art Ventilator drehte. Die Frage, ob wir in den unbefestigten Weg, von dem in einigen Beschreibungen die Rede war, einbiegen und unser Gefährt damit herausfordern sollen, beantwortete die normative Kraft des Faktischen. Das Tor war zu. Da aber nirgends ein Schild davor warnte, weiterzugehen, kletterten wir daran vorbei. Coal Mine Canyon, wir kommen!

Und es hat sich gelohnt. Dieser Canyon ist der Hammer. Kleiner und entlegener als der Grand Canyon – aber auf seine Weise wesentlich spektakulärer, roher, wilder und genauso schön. Andächtig blieben wir in respektvollem Abstand zur Kante stehen und konnten uns nicht sattsehen. Glücklich marschierten wir zurück zum Tor. Gerade, als wir im Auto eingestiegen waren, klopfte es an HerrBerts Fahrerfenster. Von uns unbemerkt, hatte ein Auto neben uns gehalten und ein großer Mann in einem karierten Hemd war ausgestiegen. Die Reiserin befürchtete Schlimmes. Hatten wir uns doch verbotenerweise auf Privatgelände begeben und kriegten jetzt Ärger? Bekanntermaßen können Amerikaner ja außerordentlich ungehalten werden, wenn sie befürchten, dass Unbefugte ihr Eigentum betreten.

Außerdem befanden wir uns auf dem Gebiet der Navajo Nation, dem Reservat der größten Gruppe von Native Americans in den ganzen USA. Der Mann sah aus wie ein Native American. „Wollt ihr den Coal Mine Canyon sehen?“, fragte er freundlich. Wir bejahten und sagten, dass wir gerade von da kamen. „Ein magischer Platz“, sagte der Mann. „Ich wollte euch nur sagen, dass es einfacher ist, wenn ihr die Straße davor nehmt, dann könnt ihr fast direkt heranfahren. Hier hat jemand das Tor zugemacht, weil in letzter Zeit einige Leute kamen.“ Wir sagten, dass es für uns völlig okay war, das letzte Stück zu Fuß zu laufen und wir auch gar nicht mit unserem schweren Auto Spuren hinterlassen wollen. „Es ist ein magischer Platz“, wiederholte er noch einmal. „Früher haben die Bewohner hier Antilopen gejagt. Sie trieben sie zusammen und erlegten sie dann.“ Heute würden einzelne Familien Schafe im Canyon weiden. „Es ist also irgendwie noch wie früher, und irgendwie auch nicht“, sagte der Mann.
„Wo könnten sie noch hingehen?“, fragte er dann eifrig seine Begleiterin, die auf dem Beifahrersitz saß. Gemeinsam berieten sie, welche Sehenswürdigkeiten es noch in der Nähe gab. Den historischen Markt, die echten Dinosaurierfußspuren hatten wir schon auf Schilder angezeigt gesehen. „Schaut euch die Elefantenbeine an“, sagte er schließlich. „Das schafft ihr noch vor der Dunkelheit.“ Zwei riesige Felssäulen, die an – Elefantenbeine erinnern.

Dann berieten die beiden noch, wo in der Nähe wir sicher und kostenlos parken und übernachten können. Beschämt von soviel eifriger Gastfreundlichkeit, trauten wir uns nicht zu sagen, dass wir schon Übernachtungen für die nächsten Tage gebucht haben, und uns dorthin jetzt auch gerne auf den Weg machen möchte. Schließlich verabschiedeten wir uns. „Er hat uns willkommen geheißen“, sagte die Reiserin ergriffen. „Wenn das kein gutes Zeichen ist.“
Den Rest der Fahrt heizten wir durch die untergehende Sonne, um baldmöglichst unseren neuen Platz in Page zu finden. Morgen mehr!

Song des Tages: In the Deathcar von Iggy Pop
Das musikalische Hauptthema des Filmes „Arizona Dream“ von 1993. Der Komponist der Filmmusik, Goran Bregovic, und der Regisseur Emir Kusturica stritten sich jahrelang über die Rechte, und die Platte war daher lange Zeit nicht zu bekommen. Iggys Stimme und der Frauenchor sind einfach hinreißend zusammen.
Was bisher (und danach) geschah: hier
