Der gestrige Abend brachte einige Überraschungen für die Reiserin: Im Gebäude des ehemaligen Flughafens Tempelhof gibt es einen originalgetreuen Club aus der Zeit der Alliierten. Zur Not kann man auch zu düsterem, deutschsprachigen Bombastoromantiksound tanzen. HerrBert hat das Herz einer Tanzmaus. Und er besitzt eine schwarze Hose. Das alles kam so:
Berlin steht gerade am Übergang vom Goldenen Herbst zur Grauen Jahreszeit. Noch ist es nicht allzu kalt und an den Bäumen sind noch bunte Blätter. Aber sie haben sich schon merklich ausgedünnt. Es wird früh dunkel oder, wenn es regnet, schon kaum mehr richtig hell. Am Wochenende fragte unsere Freundin D., die zurzeit gerade Strohwitwe ist, ob wir mit ihr tanzen gehen wollen. „Im Silverwings ist Linientreu-Party“. Tanzen wollten wir natürlich. Wir müssen alle mehr tanzen. Und „Linientreu“ ist ein Zauberwort für die Reiserin.

Das Linientreu war eine New Wave- und Gothicdisco am Bahnhof Zoo. Sie befand sich in einem legendären Neubauriegel aus den 1960er Jahren, der schon immer aus Gründen, die uns unbekannt sind, „Bikini-Haus“ genannt wurde. Heute ist darin eine Shopping Mall untergebracht.
Die Reiserin kennt das Linientreu, weil sie damals als Düsterteenager gelegentlich nach Berlin fuhr, in den Herbstferien zum Beispiel. Von da, wo sie lebte, fuhr ein schraddeliger alter Zug am Abend los und zuckelte dann die ganze Nacht über in Richtung Nordosten, bis er in der Grenzstadt Bebra für längere Zeit anhielt. Dann funzelte das dünne Licht der Bahnsteiglampen durch die beschlagenen Fenster in das Liegenwagenabteil, in dem die Reiserin vor Aufregung kein Auge zu tat. Irgendwann kamen dann die DDR-Grenzbeamten in den Wagon, verteilten rosafarbene Einreisezettel, die sie auf einem kleinen, um ihren Hals gehängten Klapptisch stempelten.
Wenn man sich in einem normalen Abteil befand und es sich, wie es in diesen jugendlichen Jahren gymnastisch noch möglich war, im Gepäcknetz gemütlich gemacht hatte, kam zuverlässig der in sächsischer Färbung vorgetragene Spruch: „Na, Fräulein, haben Sie eine Netzfahrkarte?“ Dann setzte sich der Zug wieder in Bewegung, es war tief in der Nacht, und für ein paar Stunden rumpelte man in einer Geschwindigkeit, die sich wie Schrittempo anfühlte, in Richtung Berlin. Irgendwann verhieß der Horizont einen baldigen Sonnenaufgang und weil man nicht mehr schlafen konnte, stellte man sich ans Fenster, vor dem die ordentlich aufgereihten Bäume der Mark Brandenburg vorbeiglitten.
Als klar war, dass es nicht mehr heller wird, hielt der Zug am Bahnhof Zoo und man verließ, frierend vor Übernächtigung und zitternd vor Aufregung den Wagen. Es war so gegen 6 Uhr früh und nirgendwo war etwas offen. Außer eben, das wussten wir, das Linientreu. So packten wir die Taschen in ein Bahnhofschließfach und schlurften die paar Meter rüber. Türsteher gab es um die Zeit nicht mehr und man hatte freien Zugang zu der tieferliegenden, silbernen Tanzfläche, auf der die letzten Gestalten der Nacht zu schwer wabernden Tönen und klagenden Stimmen im Goth-Schritt mit wedelnden Händen vor- und zurücktorkelten. Die Reiserin glaubt sich erinnern zu können, dass sie am Tresen auch schon einen Kaffee bekommen hat, aber das kann rückwirkende Täuschung sein.

Nach ein oder zwei Stunden war dann richtig Morgen und am benachbarten Ku’damm oder am Zoo konnte man Filterkaffee und eine belegte Schrippe erwerben. Ein neuer Tag begann, man stand übernächtigt und mit pochendem Herzen im grisseligen West-Berlin und wenn man ein jugendlicher Grufti war, konnte das Leben nicht schöner sein.
Auch im Silverwings im Tempelhofer Flughafengebäude, dem ehemaligen Alliiertencasino der Amis, scheint die Zeit zumindest seit den frühen 1980er Jahren stehengeblieben. Der Dresscode sei schwarz, hatte D. uns erinnert, nicht alle hielten sich daran, andererseits habe sie bei diesen Partys auch schon Leute in voller Fetischmontur gesehen.
Doch noch standen nur ein paar unspezifisch schwarz gekleidete Menschen vor der Tür und rauchten. Von oben waberten schon schwere Bässe, und direkt hinter der Tür begann ein von spärlichem blauem Licht erleuchtetes und noch schütter bevölkertes Paralleluniversum. Wir holten uns Getränke und wogten bald mit im düsteren Licht. Die beiden Tanzflächen des Clubs füllten sich zügig.

Im großzügig eingesetzten, gnädigen Trockeneisnebel erahnte man bloß schemenhaft die coolen Helden von einst, deren üppiger gewordene Bäuche sich unter schwarzen T-Shirts wölbten, manche der einst schärfsten Bräute hatten ihre prächtig toupierten Haartürme durch praktische Kurzhaarfrisuren ersetzt, großflächig wurde von Brillen Gebrauch gemacht, um die Getränkekarte zu entziffern. „Sind bestimmt schon einige Großeltern“, dachte HerrBert bei sich. Kein Grund, sich hier alt zu fühlen. Bei „Tanz den Mussolini“, „Fade to Grey“ und all den anderen Gassenhauern des New Wave aus den 1980ern gab es dann auch kein Halten mehr.

Allerdings war da noch der Gerüstbauer. „Gerüstbauer mit Leib und Seele“ stand in Frakturschrift auf dem Oberkörpertextil eines sehnigen Mittvierzigers. HerrBerts Phantasie ging auf Reisen und er begann die Anwesenden in mit „Sachbearbeiterin Forever“ beschrifteten Paillettenpullovern, „Ikea-Verkäufer aus Leidenschaft“ auf gelb-blauen Shirts und „MTA – mein Leben“- Aufdrucken zu phantasieren. Die Frage, was ihm der Gerüstbauer mit seinem Slogan sagen wollte, ließ ihn nicht mehr los. Bestimmt eine Botschaft an die Frauen: Einen hart malochenden Typen, der vor sexueller Kraft nur so strotzt und der, weil er gewohnt ist, ellenlang Bohlen und Gerüststangen zu schleppen, Jede glücklich zu machen vermag? „Was hat er, was ich nicht habe?“, grübelte HerrBert. „Nix“, meinte die Reiserin, die seine Gedanken in diesem Moment zu lesen glaubte. „Der wäre mir viel zu dünn.“ HerrBert strich sich beruhigt über seinen Bauch… .
Weitere Erkenntnisse des Abends: Die Energie auf der Tanzfläche war wie früher. Der wankende Goth-Schritt hingegen scheint ausgestorben. Es wird ausladend getanzt, auch der Blick mal auf den Boden gerichtet – aber nicht mehr mehr als nötig mit den Armen gewedelt. Jüngere Menschen, die diesen Musikstil schätzen, kleiden sich optisch eher in der Manga-Tradition.

Irgendwann begannen die Reiserin und ihre Freundin D. diskret und synchron zu gähnen. HerrBert wummerte hingegen weiter ekstatisch im Trockeneisnebel. Inzwischen war der Laden rappelvoll und die Anzahl der toupierten Frisuren und mit aufwendigen Kajalkunstwerken geschminkten Gesichtern nahm zu. Nach ein paar weiteren Stücken machten wir uns glücklich auf den Weg nach Hause. Auch der Herbst hat schöne Tage (und Nächte). Für den ersten Kaffee war es allerdings noch zu früh.
Song des Tages: Los Niños Del Parque von Liaisons Dangereuses
Keine drei Sekunden benötigte der ikonisch rollende Synthi-Loop dieses Stücks, 1982 vom Berliner Elektropionierpaar Beate Bartel und Chrislo Haas veröffentlicht, um alle, die jemals eine schwarze Klamotte trugen, in Tranztrance zu versetzen
