Eintrag zu Dienstag, 31. Dezember 2024 – geschrieben am Mittwoch, 1. Januar 2025
Los Angeles 16°C
Als HerrBert gestern Morgen langsam wach wird und die Augen aufschlägt, hört er leises Tastaturgeklapper und findet die Frau Reiserin schon emsig beim Schreiben. Es ist Silvestermorgen, Nebel hängt über unserem Viertel und es gibt keine konkreten Pläne für den Vormittag.
So beschließen wir, uns der textlichen Aufarbeitung der letzten Tage zu widmen. Frau Reiserin schreibt sich in einen wahren Flow, Bilder werden ausgewählt, die Songs des Tages werden eingeführt, Kaffee gekocht, Ideen verworfen und doch wieder hervorgeholt. Es herrscht emsiges Treiben in unserem kleinen Tiny-House-Quartier. Irgendwann blicken wir auf und erschrecken, wie weit der Tag über unser Treiben schon vorangeschritten ist – schon Nachmittag. Es ist doch Silvester!

Als wir unsere Reise planten, hatten wir die vage Idee, der Reihe nach mit allen Ethnien und ihren Zeitzonen zusammen Silvester zu feiern, beginnend in einer TikiBar für Ozeanien und dann über ChinaTown immer weiter dem Lauf der Jahreswechsel folgend. Davon geblieben ist nur das Vorhaben, zum mitteleuropäischen Jahreswechsel, der in Los Angeles um 15 Uhr ansteht, auf dem Hügel des Griffith Observatorium zu stehen und mit einer Flasche André mit den Lieben daheim im Geiste anzustoßen.
Dafür hätten wir uns jetzt aber sehr sputen müssen, und wären wahrscheinlich trotzdem nicht rechtzeitig oben gewesen. Da wir keine Beschwerden erwarteten, wenn nicht um Punkt Mitternacht heimatlicher Zeit ein Selfie mit LA im Hintergrund schicken, machten wir uns trotzdem auf dem Weg.
Allerdings hatten ungefähr die Hälfte der 3,7 Millionen Angelenos dasselbe Ziel. So fanden wir uns auf den letzten Kilometern der Anfahrt durch eine malerische, hügelige Landschaft in einem Stau, der ungefähr dem auf dem Brenner am ersten Tag der Winterferien glich. Mit Warnwesten ausgestattete Parkwächter verteilten die Autos auf unterschiedliche Stauschlangen zu den diversen Parkplätzen in der Umgebung des Observatoriums.

Im Schritttempo gerieten wir immer weiter vom Observatorium weg und rechneten aus, dass wir mindestens eine Dreiviertelstunde Fußweg pro Richtung entlang an Parkplätzen und Autoschlangen rechnen mussten, um den Aussichtspunkt zu erreichen. Erschwerend kam hinzu, dass die Stadt auch heute unter einer dichten Dunstglocke lag und man diese lediglich von oben gesehen hätte. Ein kurzer Blickwechsel – und schwupp, waren wir wieder raus aus dem Park, der das Observatorium umgibt. Umwege erhöhen die Ortskenntnis.
Was probieren wir jetzt? Inzwischen war ungefähr 16.30 Uhr. Für Los Angeles scheint Silvester ein Tag wie jeder andere zu sein. Nirgendwo war Knallerei von Feuerwerk zu hören, wie es etwa in Berlin schon Tage vor Silvester beginnt. Es gab auch nirgendwo Feuerwerk zu kaufen. Kalifornien, das jeden Winter mit schwersten Waldbränden kämpft, und wo das Wegwerfen von Zigarettenstummeln und Streichhölzern streng verboten ist, kommt gut ohne die Knallerei aus, wir auch.
Bleibt die Frage, wie wir den letzten Abend des Jahres begehen.
HerrBert versuchte ein weiteres Mal, Frau Reiserin für den Besuch des Konzerts von Morrisey, dem Ex-Frontmann der Smiths, zu begeistern. Den Silvesterabend bei einem Konzert in Los Angeles mit Morrisey zu verbringen, fand er durchaus reizvoll, trotz der hohen Ticketpreise. Aber Frau Reiserin gab an, dass sie einen der ältesten und weißesten Männer der Popgeschichte nicht mal für 20 Dollar hätte sehen wollen, geschweige denn für das zehnfache. Und an diesem Abend wollte HerrBert sie auch nicht alleine lassen.
In einer Gratiszeitung hatten wir gelesen, dass es im Gloria Molina Park in der City ein großes, von der Stadt organisiertes Umsonst-und-Draußen Silvesterevent mit Musik und Unterhaltungsprogramm geben soll. „Familienfreundlich“ und „ohne Alkohol“ stand dazu geschrieben. Weil wir aber eher familienunfreundlich und mit Alkohol feiern wollten, kam das nicht in Frage.

Etwas ziellos fuhren wir durch die Gegend. Dann fiel uns einer der Vorteile des Erwachsenseins ein: Man hat nicht mehr soviel Angst, irgendwas zu verpassen oder uncool zu sein. „Lass uns zuhause was kochen und dann zum Strand fahren“, schlug HerrBert vor. Und genauso machten wir es.
Nach einem netten Abend in unserem hübschen Häuschen fuhren wir gegen 22 Uhr in Richtung Long Beach. Dort war auf der Queen Mary, die dort angelegt hat, ein großes Feuerwerk angekündigt, das man in der ganzen Umgebung von der Küste aus sehen können soll. Mit unserem sehr bequemen und verheißungsvoll nach neuem Auto duftenden GMC wollten wir uns auf einen der Parkplätze bei der Marina in der Bucht von Long Beach stellen und dann kurz vor Mitternacht mit einem diskreten Fläschchen Sekt ans Wasser gehen und das Feuerwerk angucken.
Was wir da noch nicht wussten: Diejenige Hälfte der 3,7 Millionen Angelenos, die nicht am Griffith Observatorium im Stau standen, hatte scheinbar dieselbe Idee, und stand jetzt an der Marina in Long Beach im Stau. Auf der Zufahrt zum einzigen Parkfeld gab es nur eine Möglichkeit: Bis zur Enge am Ende der schmalen Gasse fahren, und dort unter den Augen der anderen Fahrer so gut wie möglich zu wenden – was HerrBert in unserem riesigen Schiff makellos gelang – und dann wieder zurückfahren, weil der Parkplatz komplett überfüllt war.
Eine Stunde Zeit war noch bis Mitternacht. Kurzerhand steuerten wir weiter östlich in Richtung Naples Island, wo HerrBert sich etwas auskannte, weil er da schon mal war. Wir parkten am Straßenrand nur ein paar Meter vom Strand entfernt. Eine Frau kam und umarmte einen der zwei Bäume, die in unserer Nähe standen. „Das ist ja nur gerecht“, murmelte HerrBert, als sie auch den anderen umarmte.

Trinken von Alkohol in der Öffentlichkeit ist in ganz Kalifornien streng verboten. Frau Reiserin, die es mit Gesetzen ja immer sehr genau nimmt, füllte darum den Sekt schon mal prophylaktisch in zwei eigens dafür mitgeführte Wasserfläschchen, und griff nach den unverdächtig aussehenden Plastikbechern. Um zehn vor zwölf standen wir dann am Strandgeländer mit Blick auf dem Pazifik. Kurz darauf wurde aus den Häusern auf der anderen Straßenseite betrunken der Countdown gegrölt, und pünktlich um Mitternacht machte es in der entfernten Bucht von Long Beach ein paarmal „Bumm“ und einige Raketen erleuchteten matt den dunstigen Himmel. Allgemeines „Happy New Year“ war allerorten zu hören und das wünschten sich auch Frau Reiserin und HerrBert.
Bereits die ganze Zeit fuhren, wie sonst auch, die Autos auf der Straße, am Strand liefen Jogger und fuhren Fahrradfahrer entlang. Ihnen allen war scheinbar Silvester egal. Immerhin die Frau Baumtänzerin sang ein paar Schritte neben uns mit wunderschöner Kirchenchorstimme dem Pazifik mehrere Neujahrsständchen. Das erste, eine liebevolle Version von „Don’t you worry ‚bout a thing“ von Stevie Wonder, nahmen wir uns zu Herzen.
Glücklich, dass wir die Möglichkeit haben, gerade jetzt an diesem Ort zu sein, fuhren wir zurück nach Glendale. Morgen geht es weiter in die Wüste.
Happy New Year aus Los Angeles!

Song des Tages: Morrissey – Everyday is like Sunday
Eine kleine Träne im Knopfloch hatte HerrBert schon, daß er nicht mit Morrisey in LA das neue Jahr begrüßen konnte, daher sein größter Solohit als Trost
