Ein halber, oranger Apfel auf einem altmodischen grünen Teller mit Goldrand auf einem braunen Holztisch

Da fällt mal die ganze Nacht Schnee und am Morgen liegt Berlin unter einer Decke, die noch bis zum Nachmittag flauschig und weiß bleibt, weil ein paar ständig rieselnde Flöckchen sie vor dem Zumatschen bewahren. Versöhnt mit der Stadt und der Winterkälte schlurft man seiner Wege, guckt sich die kleinen Lädchen an, kauft spontan in einer richtigen, kettenfreien Buchhandlung „Low“, die Graphic Novel von Reinhard Kleist über David Bowies Berliner Jahre, freut sich auf die Feierabendlektüre und gönnt sich noch einen Kaffee zum Mitnehmen. Und dann schnurstracks zur U-Bahnstation, weil es jetzt doch allmählich um den Fuß herum etwas kühl wird.

Fast so weiß war es heute in Berlin (Island, Juli 2021)

Ein bisschen wundert man sich noch, dass mehr Leute als sonst auf der Treppe zum Bahnsteig herumstehen, ein Tourist in dicker Daunenjacke hustet und gestikuliert wild in einer schwer verständlichen Sprache, immer mehr Leute bleiben ratlos auf der Treppe stehen, man beißt in seine Apfeltasche und schlurft schulterzuckend weiter in Richtung Bahn, ignoriert das übliche Hustenkonzert des Winters.

Jedenfalls bis zum nächsten Bissen. Denn dann fängt man auch an zu husten und zu röcheln, der Hals auf einmal dicht, die Augen tränen, und jetzt hört man doch hin, was die Leute sagen – und ruft und wedelt ab sofort mit.

Irgendein Idiot, oder jemand, der sich verteidigen musste, oder eine Irre oder sonst jemand der 3,5 Millionen Leute, die hier unterwegs sind, hat den gesamten U-Bahnhofsteig mit einem Pfefferspray eingenebelt, und die Schwade breitet sich langsam in der Station aus und kriecht die Treppen hoch. Der Tourist röchelt, er hat Asthma und Panik und versteht die Welt nicht mehr, zieht schwankend und verstört davon.

Beim Rest macht sich dieses typische Gefühl breit: Ich tue so, als wäre es nicht da, dann nervt es mich ein bisschen weniger. Steht man halt hustend und röchelnd im Durchzug der Treppe, bis endlich wieder mal eine Bahn kommt. Kommt doch hoffentlich demnächst nochmal eine, ja? BVG-Streik war ja bloß vorgestern, oder? Die robusten älteren Damen mit den Einkaufstaschen gehen gleich gar nicht weiter runter, sondern stellen sich kommentarlos zu den anderen Wartenden auf die Treppe. Wird schon einen Grund haben. Wer fragt, krieg eine müde, hustende Antwort. Die mit den Air Pods kriegen erst nichts mit, gehen runter, kommen hustend und röcheln wieder hoch, wundern sich auch nicht, stellen sich zu den anderen in den Durchzug.

So fünf, sechs Minuten steht man noch als frierendes, hustendes Wartekollektiv auf der Treppe rum, Blick schon wieder am Handy, wat soll sein. Berlin halt, die Irren werden mehr und einer hat dann halt auch mal einen Pfefferspray dabei.

Ein kleiner Teil des hustenden und frierenden Wartekollektivs

Nach zehn Minuten endlich der nächste Zug. Also Serviette über die Nase und rein in den überfüllten Wagen. Serviette gleich drauflassen, denn hier ist eine Stammstrecke der U7-Bettler, sie folgen einander mit wenigen Metern Abstand, kaum jemand beachtet sie noch, auch sie ziehen eine Schwade hinter sich her. Noch zwanzig Minuten, dann endlich zuhause. Und heute garantiert nicht mehr raus, Winterwunderland hin oder her. Nur noch zwei Monate, dann kann man wieder Radfahren. Liebe kann auch mal weh tun – auf jeden Fall Berlinliebe.

Bloß nicht mehr raus heute…


Song des Tages: Sense of Doubt von David Bowie

Eines der Stücke, das Bowies Zeit in Berlin in den 1970er Jahren spiegelt – und seine Faszination für die deutsche Krautrock-Avantgarde dieser Zeit.