Bevor es demnächst mit der aktuellen Reise losgeht, hier eine Erinnerung aus Lappland:
Schon immer wollte die Reiserin erleben, wie im hohen Norden im Sommer die Sonne einfach am Himmel oben stehen bleibt – rund um die Uhr. Und sie wusste auch, wo. Nämlich in einer finnischen Kleinstadt namens Sodankylä, 120 Kilometer nördlich vom Polarkreis in Lappland. Von deren Existenz hatte sie in jungen Jahren in einer Geschichte des Schriftstellers Max Goldt erfahren. In Sodankylä findet seit 1986 regelmäßig und im Zeichen der Mitternachtssonne ein Filmfestival statt. Da wollte sie hin.

Kaum zwanzig Jahre später klappte es. Im Juni 2022 schloss sie am winzigen Flughafen von Rovaniemi den HerrBert in die Arme. Er hatte sich von Berufs wegen gerade in einer anderen Richtung aufgehalten und war von da angereist. „Ganz schön hell hier“, meinte sie, als sie kurz darauf in Richtung Sonnenuntergang fuhren. Bloß, dass dieser, wie erhofft, nicht stattfand. Stattdessen stand die Sonne auch kurz nach Mitternacht noch strahlend hell am Himmel.
Eine gute Stunde Fahrt war es zu unserem Quartier. Von der ursprünglichen Idee, als Freiwillige am Filmfestival mitzuarbeiten und dafür direkt vor Ort zu wohnen, waren wir rasend schnell wieder abgekommen: Die Unterkunft der Volontäre besteht aus einem Matratzenlager in einer Mehrzweckhalle, und für sowas fühlte sich die Reiserin schon mit 18 zu alt. Stattdessen hatten wir uns eine Blockhütte am Waldrand gemietet.

Die Straße war leer, jedenfalls was Autos betraf. Doch der HerrBert nahm den Fuß trotzdem nicht von der Bremse. Es waren nämlich ziemlich viele Rentiere unterwegs. Gemächlich trotteten sie auf der Fahrbahn vor uns her oder kamen uns entgegen. Eines davon war weiß, und als die Reiserin es ansah, schaute es zurück. Sie wurde blass. „Die Sami sagen, ein weißes Rentier, das einen anschaut, überbringt eine Nachricht“, das wusste sie als Finnlandfan. „Hoffentlich ist es etwas Gutes.“
„Ich glaube schon“, sagte HerrBert. Er war gerade in einen kleinen Weg zwischen den Bäumen eingebogen. „Guck dir mal unser Häuschen an.“ Wir hielten vor einer vertrauenserweckend gemütlich aussehenden Blockhütte, die auch jetzt, nachts um eins, in glitzerndem Sonnenlicht lag. Schöner konnte es nicht sein. Motor aus, nur noch Stille, Wald, durch die Bäume gefilterte Sonne.

Die nächsten Tage waren traumhaft. Wir spazierten durch die Wälder, bestaunten die Ruhe und freuten uns über die freundlichen Rentiere, die immer mal wieder direkt vor unserem Fenster grasten und nichts als Frieden ausstrahlten. Gegen Nachmittag fuhren wir jeweils durch die Wälder in Richtung Sodankylä zum Filmfestival. Es residierte in der schmucklosen Schulanlage der äußerst schmucklosen Stadt und war doch magisch. Die Filmvorführungen fanden in Zirkuszelten statt, die auf dem Hof der Schule aufgebaut waren. Einige auch in der Aula und ein paar in dem historischen Kino namens „Lapinsuu“ an der Hauptstraße, das aussah, wie aus einem Film von Aki Kaurismäki. Der hatte das Filmfestival übrigens zusammen mit seinem Bruder und einem Kompagnon ins Leben gerufen.

Doch die meisten Filme – alte und neue – sahen wir dick eingemummelt in einem der Zelte. Diese waren auf dem blanken Asphalt aufgebaut und so zog die nordfinnische Sommerkälte ordentlich in die Knochen. Doch das machte nichts, denn die Stimmung war warm.

Wenn vor jeder Filmvorführung das Licht im Zelt ausging, zog ein kurzer Reigen von zischenden Geräuschen durch die erwartungsvolle Stille: das simultane Öffnen der Bierdosen, die sich die Zuschauerinnen und Zuschauer mit reingenommen hatten. Bier ist teuer in Finnland, und darf im Supermarkt nur bis 21 Uhr verkauft werden. Das führte jeden Abend zu hektischen Käufen des Filmpublikums. Zsch zsch zsch zsch zsch zsch zsch – und dann kam der Vorspann.

Weitere magische Momente: Als bei der Aufführung des Beatles-Konzertfilms „Get Back“ mit Karaokeeinsatz die fast tausend Zuschauer im Zelt auf Anregung des Moderatorenteams Paul McCartney gemeinsam „Let it be“ als Geburtstagsständchen sangen – mit soviel Power, dass die Schwingungen sich bestimmt von Lappland bis zu ihm nach England übertrugen. So jedenfalls war die bekundete Absicht.
Der Moment, wenn man nach dem fast zweieinhalbstündigen Film über die amerikanische Band „The Sparks“ morgens um 4 ein bisschen groggy und von dem ganz schön langen Film geplättet ins Freie stolperte – und die Sonne weiterhin hoch und glitzernd am Himmel stand und die Augen blendete. „That’s what the Midnight Sun Festival is about“, sagte jemand. “Genau dafür gibt es dieses Festival.“
Der Moment, wenn man danach übernächtigt wieder in der Blockhütte ankam und sich schon auf der Fahrt freute, dass die Blockhütte eine Sauna hat, wo man gleich die durchgefrorenen Knochen aufwärmen wird. Wie man danach schlief wie ein glückliches Murmeltier, bestrahlt von der Mitternachtssonne und in unmittelbarer Nähe zu den sanft mümmelnden Rentieren, die vor dem Fenster grasten.

So viel inneren Frieden! Der stellt sich zumindest bei der Reiserin bis heute ein, wenn sie sich daran erinnert. Zusammen mit einer Portion Wehmut. Denn das weiße Rentier, das wir auf der Hinfahrt trafen, überbrachte tatsächlich eine Nachricht, die kurz darauf auch per Telefon kam – ein erwartbarer, aber dennoch betrüblicher Tod in der Familie.
Genau eine Woche später war unsere Zeit in Lappland vorbei. Wir fuhren in Richtung Süden, wo wir unter anderem Bären beobachteten, und HerrBert anschließend auch zum ersten Mal Helsinki sah. Für die Reiserin war es ein Wiedersehen mit ihrer Lieblingsstadt. Zum ersten Mal erkundeten wir sie damals fast ausschließlich mit dem E-Roller – wie danach noch viele andere Städte. Dazu demnächst mehr.
In diesem Jahr findet das Midnight Sun Film Festival in Sodankylä vom 11. bis 15. Juni 2025 statt – zum 40. Mal. Unter anderem ist die deutsche Regisseurin Margarethe von Trotta zu Gast. Die Schmucklosigkeit von Sodankylä kommt übrigens nicht von ungefähr: Die Deutschen hatten auf ihrem Rückzug aus Nordfinnland 1944 fast alle Siedlungen in Lappland zerstört.
Song des Tages: This Town ain`t big enough for the both of us von The Sparks
Vielleicht DER Klassiker des Gebrüderduos. Auch schon 51 Jahre auf dem Buckel, aber klingt immer noch nagelneu. Wie interessant die Geschichte und wie vielfältig das künstlerische Schaffen dieser beiden Exzentriker sonst sind, zeigte der ebenfalls ziemlich exzentrische Dokumentarfilm „The SPARKS BROTHERS“, der bei unserem Besuch am Midnight Sun Film Festival lief.

