Mustafa freut sich unglaublich, mich zu sehen. Er scheint mich sehr vermisst zu haben. Vielleicht hat er nicht geglaubt, dass dieser Moment überhaupt nochmal kommt: dass ich leibhaftig in seinem Laden stehe. Aber jetzt ist es soweit. Mustafa strahlt über sein ganzes, schmales Gesicht und hibbelt herum, als könne er es kaum glauben.
Sein Deutsch ist ziemlich gut, er lobt Deutschland, Berlin, diese schöne Stadt, Thüringen, wo er so schöne Tage verbracht hat, das ganze Land, wo alles so gut funktioniert. Und jetzt mein Besuch bei ihm. Die Zeiten, sagt er, waren schwer. Wir sind im Februar 2023, lange stand alles still, nur wenig Hoffnung und niemand wusste etwas. Und jetzt ist wieder alles gut, besser als früher, jetzt ist Besuch aus Deutschland da. Willkommen, sagt Mustafa, er scheint gerührt von seinen eigenen Worten und sein Strahlen füllt die ungefähr fünf Quadratmeter seines Ladens bis in die hinterste, mit säuberlich geordneten Regalen ausgestattete Ecke.
„Jetzt in Ruhe schauen“, sagt Mustafa. „Deutsche wollen in Ruhe schauen. Mustafa sagt kein Wort.“ Er macht eine Geste, als ob er seinen Mund mit einem Reißverschluss schließt, seine Augen strahlen.
Mustafa und ich kennen uns seit drei Minuten. Genauer gesagt, seitdem ich dem Impuls gefolgt bin, die Auslage des winzigen, etwas abgelegenen Lädchens am Rand der kleinen Flaniermeile in unserem All-Inclusive-Feriendorf an der Makadi Bay in Ägypten näher anzusehen. Die anderen Geschäfte haben mich sofort abgeschreckt. Zwar sind auch sie lauschig an einem mit einer Art Kopfsteinpflasterimitation bequem angelegten Weglein in Richtung Strand aufgereiht und locken mit wohlgeordneten Auslagen: Handtaschen, Kleider, Kunsthandwerk und dazwischen ziemlich viel Bling. Mustafas Lädchen ist da eher bescheiden, dafür sieht es aber so aus, als könne man sich in Ruhe umsehen.

Das scheint bei den meisten Geschäften hier nicht möglich. Kaum, dass HerrBert und ich unseren bequemen Schlendertrab ein wenig drosseln, und mehr als eine Mikrosekunde unsere Blicke auf eine Auslage richten, springt sofort ein Händler von seinem Klappstuhl auf und lädt uns mit größtmöglichem Nachdruck ein, hereinzukommen. Mir würgt das jeden Anflug von Einkaufslaune und Geldausgebmodus – beides an sich in gesundem Maß vorhanden – ab. Ich möchte erst dann, wenn mich eine Ware interessiert, in ein Verkaufsgespräch verwickelt werden. Sicher eine kulturelle Prägung und eigentlich wäre es an mir, mich den örtlichen, orientalischen Gepflogenheiten anzupassen. Aber hier, in einem auf westliche Touristen ausgerichteten All-inclusive-Resort hoffe ich auf Nachsicht. Schon leicht gestresst von dem Gefühl, die übereuphorischen Verkäufer wie durch eine Lichtschranke mit jedem Schritt unnötig von ihrer Sitzruhe aufzuscheuchen, flüchte ich mich geradezu in den etwas entlegenen Winkel vor Mustafas Laden. HerrBert will eine rauchen und geht schon mal vor in Richtung Strand.

Auch in Mustafas Auslage liegt Schmuck. Glitzernde Ringe, Halsketten und hunderte geflochtene Armbänder mit Glasperlen in allen Farben. Niemand zu sehen, keiner springt auf, als ich mich dem kleinen Schaufenster nähere und vorsichtig in den Laden luge. Denke ich für eine halbe Minute und freue mich über meine Entdeckung. Dann kommt ein schmaler, schlanker Mann mittleren Alters aus irgendeiner Ecke des aufgeräumten Ladens und begrüßt mich mit einer Freude, die nicht mal meine Mutter zeigen würde, wenn ich nach fünfjähriger Abwesenheit wieder vor ihr stünde.
„Bettina, sehr schöner Name“, sagt Mustafa, der sofort meinen Namen wissen will. „Schöner, deutscher Name. Mustafa arabischer Name“, strahlt er und schlägt sich die flache Hand auf die schmale Brust. „Mustafa kennt Deutschland. In Deutschland gearbeitet. Sieben Jahre lang, Thüringen. Mustafa kennt deutsche Mentalität.“ Ich schaue mir die ausgeblichenen Fotos an, die säuberlich an ein Regalfach geklebt sind. Mustafa im Schnee. Mustafa vor einem Rathaus. Mustafa im Erzgebirge. Mustafa vor einer Ausflugsbahn.
Ich bin gerührt von seinem Eifer und seiner Freundlichkeit. Und gleichzeitig stresst sie mich, weil ich weiß, welches Spiel jetzt gleich beginnt. Das Basar-Spiel. Ich kenne die Regeln, aber mir fehlt dafür die emotionale Kondition. Vielleicht auch die kulturelle Geschmeidigkeit. Ich will nicht über einen zuerst x-fach überhöhten Preis empört die Augen aufreißen, energisch abwinken, vielleicht wutschnaubend den Laden verlassen, mich dann wieder mit einem viel niedrigeren Preis anlocken und mir vielleicht zwecks „Mengenrabatt“ noch zusätzliche Dinge andrehen lassen, dann nochmal, diesmal mit Bedauern, wirklich den Laden verlassen, um dann, ganz zum Schluss, wenn ich schon draußen stehe, vielleicht ein halbwegs akzeptables Angebot zu bekommen, dieses dann mit dem Gefühl annehmen, über den Tisch gezogen worden zu sein, aber jetzt wenigstens aus der Nummer raus zu kommen.

Das alles weiß Mustafa. Er kennt mich ja wie meine Mutter. Darum nennt er mit strahlenden Augen eine x-fach überhöhten, aber nicht vollständig absurden Preis für das geknüpfte Armband mit violetten Glasperlen, das ich gerade in der Hand halte. Er ist, wie ich kurz rechne, ungefähr soviel wie bei uns ein großer Cappuccino mit einem Stück Kuchen kostet, also für eine Touristin in Ferienlaune erschwinglich. Na gut, sage ich, und gebe ihm die Scheine. Mustafa strahlt. Mustafa ist ein Profi. Nein, falsch. Mustafa ist ein absoluter Extremprofi. Er nutzt nämlich die Zehntelsekunde meiner Erleichterung und auch aufrichtigen Freude über das schlichte, aber auch sehr hübsche Armband.
„Wann hast du Geburtstag?“, fragt er. Das ist noch lange hin, sage ich. Aber der HerrBert hat morgen, rutscht es mir raus, darum sind wir überhaupt hier in der Ägyptischen Sonne. Mustafa muss gar nicht viel sagen. Er lächelt nur, freundlich, bescheiden, von Herzen. „Dann komm morgen mit ihm vorbei“, sagt er und strahlt mich an. „Dann gebe ich ihm ein Geschenk, weil du meine Stammkundin bist.“ (Februar 2023)

Hält Mustafa sein Wort? Haben der Ring, der Kaftan, die Strandtasche und das T-Shirt, die HerrBert bei Mustafa am nächsten Tag überraschend erwirbt, etwas damit zu tun? Wie war unser erster All-Inclusive-Urlaub sonst so? Mehr dazu demnächst…Zuerst geht es aber in wenigen Tagen nach Kopenhagen. Mehr dazu im Live-Tagebuch. (Update: Von dieser Reise sind wir wieder zurück, das Live-Tagebuch gibt es hier nachzulesen.)
Song des Tages: Egyptian Reggae von Jonathan Richman and The Modern Lovers
Bei diesem fröhlich durchgeknallten Instrumental von 1977 bekommen Frau Reiserin und HerrBert immer und sofort gute Laune.
