Viele Grüße aus Oberhausen! Vorgestern im schönsten Abendlicht sind wir im Ruhrgebiet eingetroffen. Zwei Tage „Love, Peace und Rock’n’Roll“. So lautet das inoffizielle Motto des Festivals, das wir hier besuchen. Das mit dem Rock’n’Roll ist etwas ungenau, denn das Festival mit dem Namen „Static Roots“ widmet sich dem Musikstil, der Americana genannt wird – von traditionellem Charakter geprägte, alternative Country und Folk Music. Und nein, das hat absolut nichts mit der Bejubelung des aktuellen amerikanischen Patriotismus zu tun. Eher ganz im Gegenteil. „Ich lebe in den USA, ich benötige gerade sehr viel Frieden, sehr viel Liebe und sehr viel Rock’n’Roll“ verkündete der Moderator des Abends, und erwähnt auch gleich, dass er eigentlich Kanadier sei.

Auch im Publikum sind sehr viele Amerikaner, und sie alle machen den Eindruck, dass es ihnen anderswo zur Zeit besser gefällt. Zum Beispiel hier in Germany. Gegründet wurde das Festival 2016 von dem Essener IT-Unternehmer und Musikfreak Dietmar Leibecke, nachdem ihn ein ähnliches Festival im irischen Kilkenny beglückt hatte. Das Static Roots ist mit Liebe gemacht und nicht kommerziell ausgerichtet. Die Mitarbeitenden arbeiten ehrenamtlich, genauer gesagt spenden sie ihre Arbeitszeit der Organisation Ärzte ohne Grenzen – und auch die Einnahmen der Festivalmerch – also T-Shirts, Stoffbeutel und Ohrstöpsel – werden dorthin gespendet.

HerrBert hatte die Tickets vor vielen Monaten auf Verdacht gekauft, weil er im Radio davon hörte. Auf der Fahrt spielten wir die dazugehörige Playlist und die Reiserin war vor allem von einem Musiker begeistert: Todd Day Wait. „Der sitzt am Missouri River und singt so schön“, schwärmt sie nach Ansicht seines Promovideos. „Und er hat einen schicken Schnäuzer.“ Auch die anderen Bands, die in diesem Jahr auftreten, gefielen uns: melodisch, emotional und handgemacht.
Gestern um 16 Uhr wurden die Türen geöffnet. Der Veranstaltungsort namens Zentrum Altenberg ist Teil einer großen Fabrikanlage, die so verwinkelt ist, dass wir erst keine Menschenseele sahen und schon befürchteten, uns im Tag geirrt zu haben. Aber dann standen sie alle da: Menschen in der zweiten Lebenshälfte mit Band T-Shirts, Kopftüchern und guter Laune. Americana ist Musik für die reiferen Jahrgänge. Todd Day Wait sollte als Erster spielen – aber er steckte noch auf der Autobahn fest. Also begann eine Band, von der die Reiserin behauptete, sie hieße „The Second Fork“, was sie mit „zweite Weggabelung“ übersetzte und vermutete, dass es irgendwie auf eine historische Wegbeschreibung im Wilden Westen anspielt. Die Band heißt aber „The Southern Fold“, stammt aus Irland und macht wunderschöne, melancholische Musik, die ein bisschen an The Handsome Family oder an die Bluegrassstücke von Alison Krauss und Robert Plant erinnert. Wir wippten begeistert und beseelt.

Dann war kurze Umbaupause, Todd war inzwischen eingetroffen. Sein Set war der Hammer: oldschool Country mit Steelguitar, Zither, einem charismatischen Bandleader und insgesamt dem Groove einer Zeit, in der alles irgendwie besser war. Reine Projektion, aber sowas braucht die Seele gerade, wenn man nach Westen guckt.
Danach saßen wir im lauschigen Biergarten und mümmelten liebevoll gebratene Static Roots Burger. Plötzlich begann HerrBert betont unauffällig, mit seinem Handy zu hantieren. Auf Nachfrage gab er widerwillig zu, dass er versuchte, die älteren, irgendwie besonders stabil wirkenden Glatzköpfe zu fotografieren, die an einem der aus Paletten aufgeschichteten Stehtischen standen und bester Laune schienen. „Könnten die Godfathers sein“, murmelte er. Die spielen hier nämlich auch. „Birth School Work Death“ – wer kennt es nicht?
Nach Todd Day Wait spielte gestern noch eine junge Frau namens Bobbie, die mehrfach betonte, Französin zu sein, aber vollkommen amerikanisch sang und sprach, sich auf Joni Mitchell und Dolly Parton bezog und trotz wirklich wahnsinnig schöner und kraftvoller Stimme – irgendwo zwischen Amy Winehouse und Miley Cyrus – irgendwie emotional an uns vorbeiging. „Hört sich an wie die KI-Version einer Countrysängerin“ meinte HerrBert. Das fand die Reiserin etwas hartherzig, allerdings auch ziemlich zutreffend.
Dafür stand er dem nächsten Act positiv gegenüber. „Ist doch süß, so `ne Zausels, die Tom Petty spielen“, meinte er. Der Sänger hieß Peter Bruntnell, klang tatsächlich ein wenig wie Petty und begann mitten im Stück, ausführlich und ungefähr fünf Minuten lang seine Gitarre neu zu stimmen. Das Publikum murrte nicht, lachte aber dafür großzügig, als der Brite das deutsche Bier lobte, das nicht schlecht sei – jedenfalls für Lager. Direkt vor uns stand eine Vierergruppe seiner Fans, die der Solidarität mit dem deutschen Bier aktiv Ausdruck gaben und ihm beherzt zujubelten.

Zum Schluss, noch immer war es draußen nicht ganz dunkel, musste noch Baywater Call an. Auf unserer Playlist klang die Band kraftvoll und seelenvoll funky. In Natura war es eine knackige siebenköpfige Soulcombo mit Bläser und einer hyperintensiven Sängerin, die zum Soundcheck mal eben Janis Joplins „Mercedes Benz“ in doppelter Geschwindigkeit schmetterte und auch in der nächsten Stunde kein bisschen runterdrehte. Wir machten hingegen langsam schlapp und schlichen uns raus auf den Weg in unsere ebenfalls mit Liebe eingerichtete Unterkunft, wo wir uns hervorragend erholten.
Nachher geht es weiter mit dem zweiten Festivaltag, morgen mehr!
Song des Tages: Oh, don’t tell her von Todd Day Wait
So richtig viel haben wir noch nicht über Todd Day Wait herausgefunden. Er scheint um die 40 zu sein, stammt aus Missouri, machte schon als Jugendlicher Musik und verkaufte wohl vor 15 Jahren sein gesamtes Hab und Gut, um fortan als Countrymusiker alten Stils durch die Welt zu ziehen. Er hat schon ein paar Platten aufgenommen, eine davon in Deutschland. Nicht nur seine Musik klingt wie aus dem letzten Jahrhundert, sondern auch seine Stimme.
