„Battersea“, sagte HerrBert, als er sich nach Unterkünften für unsere Tage in London umsah. „Das ist da, wo dieses Kraftwerk ist.“
„Aha“, sagte die Reiserin. So richtig verlockend fand sie diese Information nicht.
„Na, das mit dem riesigen Schwein in der Luft“, insistierte er.
„Hm“, sagte sie. Sie hatte keine Ahnung, wovon er sprach.
„Na, auf der Platte“, er ließ nicht locker. Schwein. Platte. Kraftwerk. Warum nur ist es manchmal so schwer, diesen Mann zu verstehen?
„Na, das Plattencover von Pink Floyd“, präzisierte er. „Da ist dieses Bild von einem riesigen Industriegebäude mit gigantischen Schornsteinen drauf, und in der Luft darüber schwebt ein Ballon in Form eines großen Schweines. Mein Bruder hatte die. Heißt `Animals‘, 1977. Lehnte an George Orwells Roman `1984` an. Dystopie und so.“

Jetzt klappte ganz hinten im Hirn der Reiserin ein Erinnerungstürchen auf. Irgendwann in den Achzigerjahren, als sie zum ersten Mal in London war, fuhr sie mit der S-Bahn und sah plötzlich mitten in der Stadt eine Brache, auf der eine gigantisch große, zerfallene Industrieruine stand, deren zerbröselnde Schornsteine in den regengrauen Londoner Himmel stachen. Frau Reiserin war früher Grufti. Darum gefiel ihr dieser irgendwie apokalyptische Anblick. Die zerfallene Kathedrale einer früheren Zivilisation. Als Grufti sah sie die Welt damals gerne grobkörnig schwarz-weiß. Sie wusste damals sogar, dass das Gebäude auf irgendeinem Plattencover abgedruckt war. Weiter reichte die popkulturelle Kenntnis nicht. Gruftis hören nicht Pink Floyd.
„War früher ein Kohlekraftwerk“, wusste HerrBert. „Ist jetzt restauriert und eine Shoppingmall. Aber man kann mit einem Fahrstuhl in einen der Schornsteine hochfahren. Fände ich ja ziemlich cool.“ Damit hatte er die Reiserin. Mit Fahrstühlen irgendwo hochfahren und runtergucken, da ist sie immer dabei.

Ein paar Wochen später war es soweit. An einem Nachmittag im September 2023 fuhren wir mit dem Bus bis zur Battersea Power Station. Auch heute hingen die Wolken tief. Bloß die apokalyptische Trübheit der alten Art gab es nicht zu sehen. Die einst rußig schwarzen Mauern des Gebäudes waren in stattlichem Backsteinrot sauber geputzt, hell ragten die vier Schornsteine in die Luft. Darum herum herrschte eine moderne, gentrifizierte Tristesse. Ein renaturalisierter Garten mit demonstrativ wildwucherndem Naturgebüsch, ein paar blühende Pflanzen, auf einer Wiese standen die obligaten Stoffliegestühle, wie man sie an jedem Urban Beach findet. Auch der standardmäßige Verkaufswagen für überteuerte Milchschaumgetränke im scheinökologischen Mehrwegbechern stand parat.

„Da oben hing der Schweineballon von Pink Floyd“, informierte HerrBert. Er hatte sich jetzt in die Materie eingelesen. „Das Schwein war mit Helium gefüllt und 4,5 mal 9 Meter groß. Hat eine Ballonfirma aus Augsburg hergestellt“, wusste er. „Sie hatten es mit Seilen befestigt. Und am ersten Tag des Fototermins stand sogar ein Scharfschütze bereit, der es abschießen sollte, falls die Seile reißen. Leider war aber am ersten Tag des Fototermins der Himmel blau“, weiß er noch. „Pink Floyd wollte aber, dass es düster aussieht. Das war aber erst am zweiten Tag. Da war der Scharfschütze schon weg, der war zu teuer.“ Leider rissen ausgerechnet dann die Seile, und der Schweineballon stieg auf fast 6000 Meter Höhe in den Himmel. „Bis über Heathrow. Die Piloten sahen das frei fliegende Schwein. Da mussten sie den Flugverkehr umleiten“, erklärt HerrBert. Irgendwann soll der Ballon dann über einer Weide im Umland heruntergekommen sein und eine Kuhherde erschreckt haben. „Dann reparierten sie es nochmal und machten einen dritten Fototermin“, schloss HerrBert seinen kleinen Vortrag für die Reiserin.
Wir stapften in das Gebäude. Den industriellen Charakter hatte das ausführende Architekturbüro natürlich auf vorbildliche Weise akzentuiert: rohes Gemäuer, eiserne Streben, der gesamte Innenraum in stylischem Mattschwarz, was all die internationalen Markenwarenboutiquen darin umso hochwertiger erscheinen ließ. Die Reiserin überkam gleich wieder der Weltekel ihrer Gruftizeit. Sie sehnte sich für einen Moment zurück in die Ära, als man noch keine Ahnung hatte, dass es der vorfabrizierte Dauerkonsum sein würde, der uns mit dem Wahn nach glattgebügelter Optik von fühlenden Wesen zu Hashtagzombies entseelt. „Ganz schön nichtssagend und austauschbar“ murmelte HerrBert, während er neben der auffallend schweigsamen Reiserin an den Ladenfronten entlangschlurfte.

Die Stimmung blieb auch gedämpft, als in dem auf historisches Diner getrimmten Fast Food-Restaurant, in das wir uns setzten, die herumeilenden Servicekräfte ausschließlich für die Auslieferung der zuvor per Handy über einen QR-Code auf dem Tisch bestellten Speisen und Getränke zuständig waren. „Sieht aus, als hätten sie mit ihrer Dystopie recht gehabt“, murmelte die Reiserin.
„Lass uns in den Schornstein hochfahren“, sagte HerrBert, und zog sie, kaum waren die mediokren Fritten verspeist, in die imposante ehemalige Turbinenhalle im ersten Stock der Anlage. Hier erwarb man Tickets für umgerechnet 20 Euro pro Person, mit denen man verschiedene Schleusen zu passieren hatte. Die erste Schleuse führte in eine kleine Ausstellung zur Geschichte der Battersea Power Station. Bis der nächste Aufzug in 15 Minuten fuhr, konnte man sich hier umsehen, wie ein Guide informierte.

„Guck mal, 1929 haben sie mit dem Bau begonnen“, sagte HerrBert, der die ausgestellten Bilder und Modelle aufmerksam studierte. „Der Architekt war Sir Gilbert Scott, der auch das rote Telefonhäuschen entwarf“. Viele Filme wurden hier gedreht, „The Meaning of Life“ von Monty Python, „The Dark Knight“, „Superman”. Jetzt scheuchte der Guide die sich angesammelten Besucherinnen und Besucher in den Wartebereich vor den Aufzügen. Dann ging das Licht aus, und an den Wänden des kargen Vorraums erstrahlte plötzlich eine Darstellung der Geschichte des Kraftwerks und der Renovierungsarbeiten. „Hurra“, murrte die Reiserin. „Eine Lightshow. Fahrstuhlfahren als Event.“

Kaum war die kleine Lichtshow erloschen, wies der Guide die kleine Liftfahrreisegruppe in die Aufzüge, die sie kurz danach in einem kleinen Wendeltreppengang ausspuckte, der mit bunten Neonröhren beleuchtet war. Der Weg zum eigentlichen Lift. Wieviel Brimborium ist noch nötig, bis man da hochfahren und runtergucken kann? „Seid ihr bereit“, fragte der Guide, und schob uns in eine runde, gläserne Fahrstuhlkabine. Na, endlich.

„Guck mal, man kann die Innenwände des Kamins sehen“, sagte die Reiserin. Schlagartig besserte sich ihre Laune. „Und den Himmel“, ergänzte HerrBert und zeigte auf die weitobene kleine Öffnung. Jetzt ging es richtig los, denn plötzlich gingen im Innern des Schornsteines kreisförmige Lichter an. Dann lief wellenförmig La Ola bis ganz nach oben und wieder zu uns im Fahrstuhl zurück. Über Lautsprecher war ein Countdown zu hören und dann begann die Fahrt nach oben, die Lichter blinkten verzückt und die kreisrunde Öffnung des Schornsteins wurde umso größer, je höher wir fuhren. Doch als wir oben waren, hielt der Fahrstuhl nicht an. Vor Schreck wollte sich der Magen von HerrBert zurückziehen. Doch dazu blieb keine Zeit, als der Fahrstuhl über den Schornsteinrand hinaus in Richtung Himmel schoss und sich ganz London unter uns ausbreitete. Diesen Überraschungsmoment quittierten auch die anderen Gäste sowie die Frau Reiserin mit einem deutlich vernehmbaren, kollektiven „AAAAAAAHHHHHH!“. Auch vor Erleichterung das der Fahrstuhl jetzt zum Stehen kam. Die Überraschung war gelungen, damit hatten wir nicht gerechnet.

Im Schlot selber hatten wir die Durchsichtigkeit des Fahrstuhls wahrgenommen, sie aber dahingehend interpretiert, dass man das extra Beleuchtete im Innern sehen soll. Die Antriebstechnik und Halterung des Fahrstuhls war aber unter dem Boden des Fahrtstuhls befestigt, so dass er mit seinem Glaszylinder, in dem wir uns befanden, einfach über den Rand hinausfahren konnte. Wir genossen die Rundumsicht auf London, die Themse und das unter uns liegende Battersea. Bis dass der Fahrstuhlführeraufzugsleiter uns mitteilte, dass wir in Kürze wieder runterfahren. Der Fahrstuhl zog sich wieder ins Innere des Schlotes zurück. Die Lichter blinkten nicht mehr ekstatisch, sondern funzelten nur trübe, als ob sie sich von uns verabschieden wollten. Wir hatten unseren Höhepunkt gehabt und unten spuckte uns der Eventfahrstuhl wieder ins normale (für uns: immerhin) Londoner Leben aus. Die Reiserin strahlte. „Na siehste“, sagte HerrBert. „Auch das 21. Jahrhundert hat ja manchmal was.“ (September 2023)
Um eine Begegnung in London geht es hier.
Song des Tages: Pigs (Three different ones) von Pink Floyd
Eines der Stücke vom Konzeptalbum „Animals“. Gniedelmusik, die Maßstäbe setzte. Feindbilder, die heute fast anrührend wirken: „Großer Mann, Schweinemann, maskiert. Deine Hand aufs Herz, fast ein Witz, ein Witzbold. Dein Kopf im Futtertrog, sagt: weiterwühlen. Wundgerieben dein fettes Kinn, wonach suchst du, da unten in der Schweinemine?“
