Historische rote Telefonzelle an einer Straße in London bei Nacht, auf der Straße ein roter Doppeldeckerbus, Fahrräder auf dem Gehweg.

In London fahren wir viel mit dem Bus. Mit dem Handy ist es ganz einfach, die besten Verbindungen herauszufinden und viele der Busse fahren auch spätabends und nachts. Billiger als ein Taxi. Uber sind in London sowieso fast nicht zu bekommen. An diesem Mittwoch sind wir auf dem Weg zu unserem Appartement am Battersea Park. Es liegt ganz in der Nähe der Battersea Power Station: ein riesiges, an eine Kathedrale erinnerndes ehemaliges Kohlekraftwerk, das auch auf dem Plattencover vom Pink Floyd-Album „Animals“ abgebildet ist. Wie die dicken Beine eines umgekippten Tisches ragen seine vier riesigen Schornsteine symmetrisch in den Himmel. Viele Jahre stand das Bauwerk leer und wurde nur gelegentlich als dystopische Kulisse für Superheldenfilme genutzt. Dann hat der Neoliberalismus zugeschlagen und die Gentrifizierung gebracht. Seitdem ist es, natürlich, eine Shoppingmall.

Die ikonische Battersea Power Station ist jetzt eine Shopping Mall

London sei seit dem Brexit sichtbar heruntergekommen, haben wir vor dieser Reise im Herbst 2023 immer wieder gehört. Doch an der Oberfläche sehen wir davon nicht viel. Die Teile der Stadt, wo man sich als Reisende bewegt, sind von schweren, alten Mauern geprägt. Da bröselte es immer schon an ein paar Ecken, ohne dass sich die altehrwürdige Architektur der Stadt in ihrer grandiosen Selbstverständlichkeit davon hätte beeindrucken lassen. Nur ganz selten sehen wir Menschen, die auf der Straße leben oder betteln.

Die junge Frau, die im Oberdeck des 345er-Busses direkt hinter dem Treppenaufgang sitzt, telefoniert laut. Nachdrücklich und selbstbewusst redet sie auf ein Gegenüber ein. „Die meisten wollen’s nicht sehen“, sagt sie. „Ich schon.“ Wir sind am Natural History Museum eingestiegen und freuen uns wie die Schnitzel, dass die Sitze in der vordersten Reihe frei waren. Auf einem Logenplatz schaukeln wir jetzt die halbe Stunde nach Battersea. „Ich mach mir schon lange nix mehr vor“, die Stimme der Frau klingt jung, sie kann nicht älter als Anfang 20 sein. „Ich bin ein obdachloses Stück Dreck und dazu stehe ich.“ – I’m a homeless piece of trash and I embrace it. So beiläufig wie möglich drehe ich mich um, sie sitzt am Fenster, hat einen Schal mit Leopardenprint um den Kopf geschlungen, einen Stoffbeutel auf den Platz neben sich gelegt, wirkt stylisch und cool. „Das wäre top, aber ich will dir keinen Stress machen“, sagt sie jetzt. „Ich mach dir die Putzfrau. Ich mach dir sauber, wenn du willst.“ Dann sagt sie eine ganze Weile nichts, hört sie jemandem am anderen Ende der Leitung zu? „Vielleicht telefoniert sie ja gar nicht“, murmelt HerrBert leise. Die Idee hatte ich gerade auch schon. „Ich date, um was in den Bauch zu kriegen“, sagt sie jetzt. „Wenn es Mist ist, haue ich danach ab.“ Dann wieder eine Weile Pause. „Ach was“, sagt sie dann, „mit dem war gar nichts. Er ist wie ein Freund. Aber wir hatten nie Sex.“ Pause. „Nein, wirklich, da lief nie was!“

Zwei der vier Kamine der Battersea Power Station

„Ich brauch nen Job, definitiv“, sagt sie nach einer Weile. Spricht sie mit einem Freund, einer Freundin? Oder mit jemandem, den sie noch von sich überzeugen muss? Es sind ganz kleine Nuancen, die sich nicht zusammenfügen. Längst hören HerrBert. und ich so unauffällig wie möglich aufmerksam zu. „Ich könnte n‘ Camgirl sein“, sagt sie in einem Tonfall, der sich trainiert und abgeklärt anhört. Eine Fachkraft, die gerade die Konditionen eines Vertrags für sich verhandelt, ihre Fähigkeiten ins Rennen wirft.

Vor unserem Fenster am Oberdeck ziehen die Wohnungen von Chelsea vorbei, Designerlampen, Bücherregale, Sofas, opulenter oder minimalistischer Style, Vintage-Poster, Originalfotografien, Kunst an den Wänden. London ist eine bis in alle Details stilbewusste Stadt. Und sie ist – DAS ist uns aufgefallen – seit dem letzten Besuch vor wenigen Jahren spürbar teurer geworden. Die banalsten Einkäufe im Supermarkt läppern sich zu enormen Beträgen und eine Pizza im Restaurant kostet, wenn man nicht aufpasst, an die 30 Euro. Hin und wieder haben wir uns in den letzten Tagen die Aushänge der Immobilienagenturen angesehen. Schon für das engste Häuschen innerhalb der Stadtgrenze werden mehrere Millionen aufgerufen. Die wenigen Mietwohnungen werben mit Wochenpreisen ab 700 Pfund, fast 1000 Euro. „Pro Woche!“, sagt HerrBert dann jeweils fassungslos. Sicher gibt es auch günstigere Wohnungen, aber wie findet man sie?

London, nachts

„Irre, dass wir beide in derselben Situation sind“, sagt die Frau jetzt. Dieser alte Verkaufstrick: immer die Gemeinsamkeiten mit dem potentiellen Kunden betonen. „Lass uns das zusammen angehen.“ Noch immer hat sie einen souveränen Tonfall, spricht nachdrücklich und präsent. Aber die Verzweiflung klingt jetzt durch, untergräbt den abgeklärten Sound. Wieder sagt die Gegenseite etwas, oder auch nicht, oder es gibt sie gar nicht. „Aber nur, wenn ich dir echt keinen Stress mache“, sagt sie dann, und jetzt hört sie sich auf einmal erschöpft an. Oder hat das Gegenüber schon aufgelegt und sie versucht, die Show im Oberdeck des 345er Busses zu beenden und dabei ihr Gesicht zu wahren? Lange sagt sie gar nichts. Dann „Bye“, in einen luftleeren Raum. Noch einmal schaue ich verstohlen nach hinten. Sie setzt sich eine Sonnenbrille auf, ein riesiger Fremdkörper in einem ganz glatten, sehr jungen Gesicht, umrahmt von dem verfilzten Leopardenschal und gnadenlos ausgeleuchtet vom hellen Licht des Doppeldeckerbusses. Kurz vor der Brücke über die Themse hält der Bus nochmal an. Sie packt den Stoffbeutel und strauchelt die enge Treppe hinunter, schmal und hart, höchstens Anfang zwanzig, auf dem Weg zu einer Unterkunft für die Nacht. (September 2023)

In den einen Kamin der Battersea Power Station kann man mit einem bunt beleuchteten Aufzug hochfahren

Song des Tages: I Love You More (Than You Like Me) von The Streets

Der Musiker und Wortkünstler Mike Skinner und sein Projekt The Streets kommen aus Birmingham, nicht aus London. Aber die melancholische Nüchternheit dieses Stückes passt zu dieser Erinnerung an eine Busfahrt in London vor eineinhalb Jahren.

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