Silouette eines Flugzeugs, das im dunstigen Gegenlicht über die Küste fliegt. Im Hintergrund glitzert das Meer, davor die Silouetten von hohen Palmen bei blassblauem Himmel

Ein paar Gedanken zum Feuer in Los Angeles

I Surreal

Es ist surreal, und wir wissen nicht, wie wir in dieser Situation das Richtige tun können. Was das Richtige überhaupt ist. Übermorgen müssen wir nach Los Angeles zurück. In die Stadt, die wir auf unserer Winterreise vor 14 Tagen in Richtung Wüste verließen, und aus der wir, wenn alles nach Plan läuft, am Samstag in Richtung Deutschland zurückfliegen.

Unsere ersten Texte hier im Blog handelten von L.A. Vom Winterlicht, von der Bezauberung der Vintage-Häuschen, vom Laurel Canyon und von den Sonnenuntergängen am Ende der Boulevards. Wir erwähnten, dass Böllern am Silvester so unüblich wie verboten ist, „Kalifornien, das jeden Winter mit schwersten Waldbränden kämpft, kommt gut ohne die Knallerei aus.“ Fast hätten wir auch über die legendären Santa Ana-Winde geschrieben, das Wetterphänomen, das hier den Winter prägt und aus starken Föhnwinden besteht. Genauer gesagt aus Fallwinden, die sich aufheizen und mit ihrer Trockenheit nicht nur Feuer anfachen, sondern auch Migräne und andere seltsame Gemütszustände auslösen können.

Am 1. Januar fuhren wir los in Richtung Palm Springs. Am 6., als wir über die Grenze nach Nevada und in Richtung Las Vegas unterwegs waren, entzündeten sich in Los Angeles die ersten beiden Feuer: das „Palisades Fire“ in der Strandregion der Pazifikküste und das „Eaton Fire“ in den historischen Wohnsiedlungen nördlich von Pasadena. Auf der Feuerkarte der L.A. Times sahen wir fast in Echtzeit, wie sich dieser Flächenbrand immer weiter ausbreitete. Das kleine Cottage in Glendale, wo wir die ersten Nächte verbracht hatten, war nur noch sechs Blocks von der Evakuierungszone entfernt. Zwei Tage später begann es auch in Hollywood Hills zu brennen, weitere Feuer kamen dazu. Bis heute sind insgesamt über 150 Quadratkilometer Fläche verbrannt, ungefähr 57 Quadratkilometer allein in der Wohngegend rund um Pasadena.

Übersetzt auf unsere Heimatstadt Berlin bedeutet das: Eine Fläche in der Größe von Neukölln und Kreuzberg zusammen ist innerhalb weniger Stunden in Flammen aufgegangen und innerhalb von zwei Tagen vollständig abgebrannt. „Vollständig“ ist wörtlich zu verstehen. In diesen Stadt- und Wohnvierteln stehen so gut wie keine Wohnhäuser mehr, keine Schulen, keine Altenheime, keine Geschäfte, keine Cafés. Auf manchen Bildern sind nicht mal Trümmer zu sehen, sondern nur kleine Häufchen von Asche. Irgendwo hat ein Augenzeuge es so formuliert: Es sieht aus wie Berlin 1945, nur schwarz verkohlt.

Augenzeugen berichten in den Zeitungen, dass die Feuer in L.A. so schnell kamen, dass es für viele unmöglich war, überhaupt etwas zu retten – nur ihr nacktes Leben und, sehr oft, ihre Tiere. Die Kalifornier sind extrem tierlieb und die ersten Hilfsaktionen zielten darauf, Haustiere vor den Flammen zu bewahren.

In Kalifornien wird traditionell nicht in Stein und Zement gebaut, sondern in Holz. Wenn man an einer Baustelle vorbeifährt, sieht es oft sogar so aus, als bestünden die Wände aus dem, was in Deutschland „OSB-Platte“ heißt: zusammengepresste Späne. Zwischen den Häusern dürres Gebüsch, trockene Palmen, in den Canyons, die L.A. umgeben, sind viele Wasserläufe ausgetrocknet. Es regnet hier sehr selten, das letzte Mal vor langer Zeit. Sobald der erste Funken kam, brannte alles wie Zunder. Die engen Canyons wirken wie Kamine, die starken Santa Ana-Winde machten es schwer, aus der Luft gezielt Wasser zu sprühen. Zudem gab es anscheinend nicht genügend Wasser, weil einige der Reservoirs der Stadt – zum Teil wohl aufgrund von politischen Entscheidungen – leer gewesen sein sollen.

II Altadena

Eines der Viertel, das im Eaton-Feuer wohl fast vollständig abgebrannt ist, heißt Altadena. Es befindet sich oberhalb von Pasadena, nicht weit von da, wo wir in den ersten Tagen oft unterwegs waren. Doch den Namen hörten wir erst ein paar Tage später – als wir schon in der Wüste waren, aber bevor es brannte. Am 5. Januar saßen wir im Harmony Motel in Twentynine Palms im Hot Tub, als ein Vater mit seinem kleinen Sohn dazukam. In der typischen amerikanischen Freundlichkeit bat er, dass wir etwas Platz für den Kleinen machen. „Er hat letztes Jahr in Ohio zum ersten Mal einen Whirlpool kennengelernt und seither ist er davon besessen. Er freut sich schon seit Tagen darauf, dass es in diesem Motel einen gibt.“ Natürlich rückten wir zusammen und der kleine Junge im Winter-Badeanzug plantschte strahlend und völlig entrückt an den blubbernden, beleuchteten Düsen herum. Jedes Mal, wenn sein Vater auf die Schlafenszeit verwies, bettelte er, noch ein paar Minuten im Wasser bleiben zu dürfen.

Wir unterhielten uns mit dem jungen Vater. Er und seine Frau nutzten die in Kalifornien dreiwöchigen Schulferien im Winter, um mit dem Kleinen eine Reise ins Hinterland zu machen. „Damit er ein paar Erinnerungen fürs Leben hat“, sagte er. „Der Jacuzzi gehört sicher dazu“, meinten wir angesichts der Glückseligkeit des Jungen. „Oh ja, das hoffen wir auch“, lachte der Vater. Seine Frau kommt aus New York, er selbst sei „born and raised in L.A.“, wie er sagte. Die Familie lebte in Altadena, „eine wunderbare Gegend mit einer super Gemeinschaft“. Am nächsten Morgen wollten sie früh aufstehen und durch den Joshua Tree-Nationalpark wandern. An diesem Tag begann es in Altadena zu brennen.

Der Stadtteil, in den Dreißigerjahren als Wohngegend mit kleinen Häuschen gebaut, brannte in wenigen Stunden fast vollständig ab. Abertausende von Menschen sind an diesem Tag nicht nur obdachlos geworden. Sie haben auch alles Materielle verloren, das ihre Geschichte enthielt: Fotoalben, Möbel, Bilder, Erinnerungsstücke, Bücher, Kleider. Ist auch die Familie des kleinen Jungen betroffen? Wird das seine Erinnerung fürs Leben sein?

III Zu nahe treten

Gestern Abend sind wir in Monterey angekommen, 550 Kilometer nördlich von Los Angeles an der Pazifikküste, zurück aus dem nördlichen Hinterland des Yosemite-Nationalparks. Vorsichtig tasteten wir uns auf der Fahrt an das Thema heran, das uns beide seit Tagen beschäftigt: Fahren wir nochmal nach Los Angeles rein? Behalten wir den Ort, wo wir vor kaum zwei Wochen so schöne und unbeschwerte Tage erlebt haben, in Erinnerung, wie wir ihn verließen? Entscheiden wir uns dafür, dass diese Katastrophe in unserer Erinnerung ohne eigene Bilder bleibt? Dass sie dann in gewisser Weise für uns nicht stattgefunden hat? Ist das moralisch nachvollziehbar? Verwerflich? Falsch? Dumm?

Oder fahren wir hin, falls das geht, so umsichtig wie möglich, um keine Wege zu versperren, nicht Gaffer zu sein, niemandem im Horror, der gerade stattfindet, zu nahe zu treten?

Gehen wir hin, müssen wir hin, um die Orte, die wir in ihrer unbeschwerten Schönheit sahen, auch zu sehen, wie sie heute, zwei Wochen später und vielleicht noch für lange Zeit sind? Brauchen wir Eindrücke, um ein vollständiges Bild zu haben? Müssen wir Zeugen der Zerstörung sein, weil wir ausgerechnet jetzt, wo sie geschah – und noch in Gang ist – hier sind? Ist das moralisch geboten? Verwerflich? Falsch? Dumm? Voyeuristisch?

IV Rückkehr, keine Rückkehr

Viele Menschen in Los Angeles konnten noch nicht in ihre Wohngebiete zurückkehren und wissen nicht, ob ihr Haus oder das Haus ihrer Freunde, Eltern, Nachbarn, Kinder noch steht. Bisher mindestens 27 Menschen sind in dem Feuer gestorben, viele sind noch vermisst. Viele haben kurz vor den Feuern den Versicherungsschutz für ihre Häuser verloren, weil Regularien geändert wurden.

Die Katastrophe in Los Angeles ist mehr als die verbrannten Häuser. Es sind soziale Konstrukte und Lebensläufe, die innerhalb von wenigen Stunden eingestürzt sind. Geschäfte, die vernichtet wurden, Kundschaft, die nicht mehr existiert. Soziale Gefüge, die zerrissen wurden, weil man keine gemeinsame Nachbarschaft mehr bildet. Was bedeutet das für diese Stadt? Geht uns das als Touristen etwas an? Muss es uns etwas angehen? Darf es uns nichts angehen?

Im Moment soll in Los Angeles eine überwältigende Welle an Hilfsbereitschaft und Gemeinschaftsgeist herrschen. Menschen, die selbst komplett desolat sind, engagieren sich, um anderen zu helfen, denen es gleich oder schlechter geht. Auch unsere Airbnb-Vermieterin in Glendale, die in den Tagen unseres Aufenthalts ihren Mann aus Gründen, die wir nicht wissen, in die Notaufnahme bringen musste, und in der Zeit um den Jahreswechsel ständig zwischen ihrem Haus und dem Spital hin- und herpendelte, antwortete auf unsere besorgte Frage, dass sie in Sicherheit sei und es jetzt darum gehe, „Tag für Tag aufeinander aufzupassen und denen zu helfen, die Hilfe benötigen“ – zu einem Zeitpunkt, als ihre Straße von beiden Seiten bis auf wenige Blocks von Feuern bedroht war, die sich weiter ausbreiteten.

Wir sind beide Leute, die nicht langsamer fahren, wenn wir irgendwo einen Unfall sehen und klar ist, dass niemand unsere Hilfe braucht. Wir wollen keine Glotzer sein, sind keine Voyeure. Wir wollen auch das Desaster von Los Angeles eigentlich nicht sehen. Aber wir können auch nicht die Augen davor verschließen, wenn es direkt vor unseren Augen liegt. Was ist jetzt das Richtige? Machen wir es uns zu einfach? Zu schwer?

Wir haben für diese Frage noch keine Antwort.

V Abbruchkante

Im Vorfeld dieser Reise haben wir viel über Los Angeles gelesen. Einer der Texte stammte von der Schriftstellerin Joan Didion, die aus Kalifornien kam und viel und intensiv über diesen Landstrich schrieb. Ein Essay handelt von der Realität der Santa Ana-Winde und ihrem Einfluss auf das Lebensgefühl der Angelenos.

„Die Stadt, die brennt, ist Los Angeles‘ tiefstes Selbstbild“, schrieb Didion 1968 in ihrem Essayband „Slouching towards Bethlehem“. „Die Witterung von Los Angeles ist die Witterung der Katastrophe, der Apokalypse, und ebenso, wie die vorhersehbar langen und bitteren Winter in Neu-England das Leben dort beeinflussen, beeinflusst die Gewaltsamkeit und Unvorhersehbarkeit der Santa Anas das Leben in Los Angeles, akzentuiert seine Unbeständigkeit, seine Unzuverlässigkeit“, heißt es darin. „Der Wind“, lautet ihr letzter Satz, „zeigt uns, wie nahe am Abgrund wir sind.“

Einige der Feuer sind immer noch nicht gelöscht, und für Anfang nächster Woche werden wieder stärkere Winde erwartet.

Über den Verlauf unserer Reise erzählen wir täglich aktuell in unserem Live-Tagebuch. (Update: Von dieser Reise sind wir schon eine ganze Weile zurück. Das gesamte Live-Tagebuch könnt ihr hier nachlesen.)

(Zitiert aus: Joan Didion – „Slouching towards Bethlehem”, Fourth Estate, 2017. Übersetzung der Textpassagen durch uns.)