Verschiedene große Lippenstift-Skulpturen in Rot- und Pinktönen auf einem Couchtisch im Lippenstiftmuseum Berlin

Neulich an einem Samstagnachmittag war die Reiserin mit ihrer Freundin Judith verabredet: zu einem Plausch mit dem Titel „Meine Freundin Hildegard Knef“ – inklusive Plätzchen, Kaffee und Crémant, wie das Programm verhieß. Veranstaltungsort: das Lippenstiftmuseum in Berlin-Wilmersdorf. Davon hatte trotz zusammen 69 Jahren in Berlin und erwiesener Affinität zu Schmink- und Kitschkultur bisher keine von uns gehört.

Dabei gibt es auch das Museum anscheinend schon seit ein paar Jahrzehnten. Gegründet wurde es von einer Legende der Stadt, dem Visagisten René Koch. Für die jüngeren Mitlesenden: So hießen Make Up Artists, bevor sie Make Up Artists hießen. Koch begann seine Karriere 1970 und hatte seither wohl alle Promis unter dem Pinsel, die jemals hierzulande vor eine Kamera traten. Seit 1996 engagiert er sich mit speziellen Produkten und Schminktechniken zudem für Menschen, die durch Unfälle oder Krankheiten Hautauffälligkeiten haben, die sie lieber kaschieren, um nicht angegafft zu werden. Dafür bekam er 2002 das Bundesverdienstkreuz. Privat war er früher nach eigener Aussage gerne als Dragqueen unterwegs – ebenfalls bevor diese Bezeichnung zum allgemeinen Sprachgebrauch gehörte.

Berühmte Wimpern im Lippenstiftmuseum in Berlin

Koch war eng mit einer anderen Berliner Legende befreundet: der Schauspielerin und Sängerin Hildegard Knef, bekannt für ihre unnachahmliche Art des verschleppten Sprechgesangs, ihre pechschwarz und pandagroß mit dunklem Lidschatten umrahmten Smokey Eyes und ihren forschen Witz, mit dem sie sich zeitlebens dagegen abschirmte, auf die paar Sekunden reduziert zu werden, in denen sie 1951 mit unbekleidetem Oberkörper auf der Kinoleinwand zu sehen war. René Koch war ihr persönlicher Stylist und Maskenbildner, bis sie 2002 starb.

Der Erzählnachmittag, den er immer mal wieder unter dem Titel „Meine Freundin Hildegard Knef“ veranstaltet, ist dieser Freundschaft gewidmet. Im Rahmen einer „exklusiven und intimen VIP-Lesung“ im Lippenstiftmuseums erzählt er Anekdoten an seinem Esstisch. Gesamtpreis: 35 Euro.

Hausgemachte Kunstwerke im Lippenstiftmuseum Berlin

Praktischerweise residiert das Lippenstiftmuseum nämlich in Kochs Privatresidenz. Und diese bestehen praktischerweise aus einer gigantischen und weitläufigen Berliner Altbauwohnung, wo seine enorme Sammlung von historischen Lippenstiften, Hüten, Kostümen und sonstigen Make Up-Memorabilien hübsch und liebevoll drapiert zur Schau gestellt ist. Ein ganzes Zimmer ist Hildegard Knef gewidmet, und nach einer kleinen Einführungsrunde mit ein paar Filmschnipseln der Knef dürfen wir es unter der Führung des freundlichen und konzentrierten Mannes ansehen, der als „nur Christian“ vorgestellt wurde, und der als ein Mitkurator des Museums amtiert.

Wir sind 9 Besucherinnen und 1 Besucher. Aufmerksam beantwortet Christian Fragen, erzählt Anekdoten und passt diskret auf, dass niemand die Objekte anfasst, die nur zum Anschauen da sind. Darunter: ein von Knef gemaltes Bild eines Tümpels im Hundeauslaufgebiet Grunewald, das marshmallowfarbene Kostüm, mit dem sie 1977 ihren dritten Gatten standesamtlich ehelichte, ein halbes Dutzend Strohhüte der Diva („wenn sie mit einem Hut einmal fotografiert worden war, trug sie ihn in der Öffentlichkeit nicht mehr“) sowie ihre enormen künstlichen Wimpern, von denen sie, wie wir erfahren, bis zu einem bestimmten Zwischenfall immer nur ein einziges Paar dabei hatte. Riechen darf man am alten Parfüm der Knef („natürlich längst gekippt“).

Hildes Hüte im Knef-Salon des Lippenstiftmuseums in Berlin

Die Wimpern-Anekdote geht so: Wenige Minuten vor einem Auftritt, als der Maestro – der sich während der kleinen Führung diskret im Hintergrund hält – die Wimpern schon mit Kleber eingepinselt hatte, wurde die Tür zur Garderobe aufgerissen, und einer der künstlichen Wimpernkränze verselbständigte sich. „Damit das klar ist: Mit einer Wimper trete ich nicht auf“, habe die Knef angekündigt, worauf alle hektisch zu suchen anfingen. Hildegard Knef selbst kniete sich auf den Boden, um in einer Ecke nachzusehen. Dabei soll Koch das Gesuchte entdeckt haben – an der Unterseite ihres Schuhs. Die Show war gerettet – und eine neue Regel aufgestellt: Nie wieder würde sie dulden, dass man ohne Ersatzwimpern zu einem Auftritt fahre.

Zum Kaffee gibt es Plätzchen in Form von Hildegard Knefs Mund

Der Nachmittag plätschert freundlich dahin, wir setzen uns wieder an die große Kaffeetafel im Wohnzimmer, auf eine zweite Runde Sekt, ein paar weitere Plätzchen und Filmausschnitte. Jetzt kommt René Koch nochmal ins Plaudern. Er ist freundlich und lebhaft, bereit, auf alle Fragen zu antworten. „Das ist hier alles live und natürlich.“ Gut sieht der kurz vor seinem 80. Geburtstag stehende Schminkkünstler aus in seinem schicken weißen Hemd mit schwarzen Blitzen. Natürlich sitzt es perfekt – „das hat Karl für mich gemacht“. Lagerfeld, versteht sich.

Zum Schluss, die anberaumten zwei Stunden sind fast um, lässt Koch den dritten Gastgeber im Bunde, laut Visitenkarte der Hauptkurator namens Dieter, nochmal Sekt nachschenken. Und weil in der Ecke, wo die Reiserin und ihre Freundin sitzen, die Etagère mit den Plätzchen schon längst leergefuttert ist, wird auch Christian aufgefordert, nochmal nachzulegen. Die Plätzchen, das vermeldete er nämlich schon zur Einführung, backe seine Mama jede Woche speziell zu diesem Anlass: Sie sind der Lippenform von Hildegard Knef nachempfunden, es gibt sie in den Varianten Zitrone und Chili.

Detail des Kostüms, in dem Hildegard Knef ihren dritten Gatten Paul Rudolf Schell (so stand es auf der Einladungskarte) heiratete

Ganz zum Schluss geht es durch den laufsteglangen Berliner Flur, der hier als Galerie für alle dient, mit denen Koch sich jemals fotografieren ließ. Am Ende liegt das „Schminkzimmer“, wo auch Hilde Knef früher bei optimalem Tageslicht verschönert wurde. Jetzt dürfen die Besucherinnen sich vom Meister zu ihrer individuellen Lippenstiftfarbe beraten und anschließend fotografieren lassen – und natürlich ist denen, die es wünschen, auch der Erwerb eines solchen Stiftes oder anderer Produkte des Meisters nicht verwehrt.

Danach verabschiedet man sich freundlich – manche sind schon zum xten Mal dabei. Die Reiserin freut sich, diesen Ort entdeckt zu haben. Es ist nicht nur ein „Lippenstiftmuseum“ oder die mit Zeitgeschichte bis in die Gegenwart aufgeladene Wohnung einer lebenden Berliner Legende. Es ist eine Zeitschleuse, in der man sich für zwei Stunden in eine West-Berliner Epoche versetzen lassen kann, die es so nie wieder geben wird.

Berliner Lippenstiftmuseum, Helmstedter Straße 16, Berlin-Wilmersdorf. Geöffnet bei Veranstaltungen und nach telefonischer Vereinbarung. www.lippenstiftmuseum.de

Hinweis: Durch diesen Beitrag entstehen uns keinerlei Vorteile und wir haben keine Verbindung zu den Betreibern. Den Eintritt haben wir selbst bezahlt.


Song des Tages: Im 80. Stockwerk von Hildegard Knef

„Im 80. Stockwerk, in dem Haus, das es nicht gibt“ – ein Song wie ein grau verhangener Regentag, an dem man einen üblen Kater hat. Das verhältnismäßig unbekannte Stück von Hildegard Knef stammt von 1970, ist aber in seinem düster lyrischen Psychedelikgroove und dem charakteristischen Sprechgesang zeitlos geblieben.