Sänger mit nacktem Oberkörper hält Mikrofon und zeigt mit ausgestrecktem Arm ins Publikum, dargestellt auf einer Leinwand bei einem Konzert im Freien. Der Sänger ist Iggy Pop

Die erste frühzeitliche Erwähnung von Iggy Pop fand HerrBert auf einem Plakat des Deutschen Theaters zu Berlin, genauer zu Ost-Berlin, welches gleichzeitig auf den prähistorischen Zeitraum „vor dem Mauerfall“ schließen lässt. Auf dem Plakat standen kreuz und quer Zeitungsmeldungen über westliche Rockfestivals der Endsechziger und Anfangsiebziger des vorigen Jahrhunderts. Von Woodstock über Monterey bis Altamont. Eine der Meldungen handelte vom Herumwälzen in Glasscherben eines gewissen James Osterberg, Künstlername: Iggy Pop.

Ein paar Jahrzehnte nach der wohlwollenden Kenntnisnahme HerrBerts auch von der Musik Iggy Pops, und mit dem freiheitlich erworbenen Wissen der gemeinsamen Geschichte von David Bowie und Iggy Pop in Westberlin, traf HerrBert dann unerwartet in einem Hotelflur auf diesen Helden. Zugegebenermaßen nur auf ein Abbild desselben, jedoch mit Auswirkungen.

Und zwar in Basel. Der lange, etwas trübe Flur verband die edle Lobby eines Erste-Klasse-Hotels unmittelbar am Bahnhof SBB mit den weitaus kostengünstigeren Hostelzimmer im schattigen Nebengebäude, wo unser Quartier lag. Die großformatigen Schwarzweißporträts von Musikern sollten den etwas tristen Flur beleben. Die meisten kannten wir nicht einmal, oder fanden deren Musik doof. Doch aus einem Rahmen kurz vor dem Übergang in den schicken Teil des Hotels schaute unzweifelhaft Iggy von der Wand. HerrBert war von dem Schwarz-Weiß Porträt auf der Stelle fasziniert. Der Flur, durch den scheinbar nur wir zu den kostengünstigeren Unterkünften schritten, weckte in HerrBert alte Diebesfantasien. Es gab keine Kamera und die Bilder waren nicht weiter gesichert… Er sah das Bild schon in seiner kleinen Weddinger Wohnung im Wohnzimmer hängen und durch seine Größe alle Rahmen der klassischen Wandgestaltung von Kanten- bis Petersburger Hängung sprengen. Jedoch die Angst vor der eidgenössischen Polizei, die ihn bei einer Verhaftung sicherlich zur Abschreckung mit Handschellen durch die ganze Stadt führen würde, machte die Umsetzung seiner Diebesfantasien zunichte. Bei den weiteren Gängen durch jenen tristen Flur seufzte HerrBert mehr oder weniger still vor sich hin und gestand der Frau Reiserin auf die Nachfrage, was ihn denn so betrübe – seine unumsetzbaren Diebesfantasien.

Das da will ich haben! HerrBert hat Diebesfantasien (Foto Iggy Pop: Flavia Schaub für Baloîse Session Kalender 2016)

Die Reiserin horchte auf. In gut fünf Monaten war Weihnachten, und das wäre dann doch eine schöne Geschenkidee für HerrBert. Da es der Reiserin aber an krimineller Energie mangelt, musste sie einen anderen Weg finden, Iggy in den Wedding zu bringen. Unter einem Vorwand ließ sie HerrBert schon mal vorgehen, und guckte sich dann suchend um, ob es irgendwo eine Quellenangabe für die sicherlich schweineteure, weil wirklich gekonnte und überdies sehr schön gerahmte Fotografie zu finden sei. Und tatsächlich war der Name einer jungen Fotografin aus der Schweiz vermerkt – sowie der Umstand, dass alle diese Porträts im Rahmen eines Musikfestivals angefertigt worden seien, das eine große Versicherung zwecks Imagepflege jährlich in Basel für seine Kundschaft veranstaltet und dazu musikalische Top Acts einfliegt. Einfach so, weil sie es können.

Kaum zuhause, leerte die Reiserin ihr Sparschwein, beäugte skeptisch die wenigen Scheine und vielen Münzen und schrieb trotzdem der Fotografin eine schüchterne Nachricht. Die Antwort der freundlichen Schweizerin kam umgehend. Sehr gerne würde sie das Bild zur Verfügung stellen. Es gäbe allerdings ein kleines Problem: Sie besitze die Rechte daran gar nicht. Die Versicherung habe die Porträts nämlich in Auftrag gegeben, um damit einen hochwertigen Fotokalender als Weihnachtsgeschenk für die Kundschaft anfertigen zu lassen. Leider sei der Kalender, ohnehin schon ein paar Jahre alt, und, da Kundengeschenk, ohnehin nicht käuflich.

Also ein nächster Versuch: Die Reiserin schreibt direkt an die Marketingabteilung der Versicherung. Die nette Chefin dort reagiert umgehend. Ja, es lägen wohl noch einige Exemplare des Kalenders im Keller. Sie würde sich demnächst mal auf die Suche machen. Eine Woche später der Bescheid: Ja, sie hat noch einen Kalender gefunden. Der sei aber sehr großformatig, und daher könne und möge sie ihn nicht nach Deutschland verschicken. Die Reiserin dürfe ihn aber jederzeit zu Geschäftszeiten in Basel abholen, kostenlos.

Wieder Kopfkratzen und eine kleine Träne im Knopfloch über diese Großzügigkeit und Mühe der netten Frau. Aber wegen dieses Kalenders knapp 800 Kilometer hin und zurück fahren schwierig. Sie klagte ihr Leid ihrer Schwester, die unweit von Basel wohnt und sich bereit erklärte, bei ihrem nächsten Besuch in Basel bei der Versicherung vorbei zu gehen und den Kalender abzuholen. Und ihn auch gleich von jenseits der deutschen Grenze, an der Basel liegt, inländisch nach Berlin zu verschicken. Weil: Schweizer Post Nicht-EU und Pakete nach Deutschland sehr, sehr teuer. Das tue sie doch gern für den Schwager. Und natürlich bringt sie der netten Frau auch eine Schachtel bester Pralinen mit, als kleine Geste für deren Geste.

Und so machte sich die Schwester auf zur Versicherung, und bald danach das Paket zur Reiserin nach Berlin. Nun sollte aber natürlich der HerrBert nicht zufällig anwesend sein, wenn das Paket ausgeliefert wird. Also hatte man beschlossen, das Paket an die beste Freundin der Reiserin schicken zu lassen, auf dass sie es in einem günstigen Moment dort abholen und vor dem HerrBert verstecken kann.

Die Freude war strahlend, als das wirklich außerordentlich große, dafür aber flache Kartonpaket in Berlin-Kreuzberg eintraf. Zwar erforderte es einige artistischen Beweglichkeiten, es ohne zu zerknicken mit der U-Bahn quer durch die Stadt ins Arbeitszimmer der Reiserin zu bugsieren, aber es gelang. Noch knapp vier Wochen bis Weihnachten.

Jetzt folgte der nächste Schritt: Das Bild sollte ja gerahmt werden. Also mit einem heimlich geschossenen Foto des Originalbildes aus dem Hotelflur ins Rahmenfachgeschäft gegangen – und dort erstmal einen strengen Blick des Rahmenfachmanns auf das vorsichtig aufgeblätterte Kalenderblatt geerntet: „Wer soll dit sein?“ Und überhaupt: Ganz so schnell geht das alles nicht. Erstmal müssen Entscheidungen über Grad der Entspiegelung, Proportionen des Passepartouts und diverse andere Dinge getroffen werden. Ein so großes Bild ohne hochpreisige Entspiegelung könne man „nicht mal aufs Klo hängen“, wie der Fachmann es formulierte, weil man darauf nämlich nichts erkenne. Und der scheinbar quadratische Schnitt des Passepartouts im Hotelflur sei eine optische Täuschung: Um den quadratischen Effekt zu erzielen, muss die untere Kante ein ganzes Stück höher sein als die anderen Teile der Umrahmung. Die Reiserin nickte zu allem und wollte nur eine Zusicherung: dass das Bild vor Weihnachten fertig sei. Das waren nur noch drei Wochen. Könne man nicht garantieren. „Kommse am Heiligabendvormittag vorbei, dann sehen wir, ob es hinhaut. Wir haben offen bis 13 Uhr.“

Mit etwas mulmigem Gefühl legte die Reiserin den riesigen Kalender auf den Tisch und unterschrieb den Auftrag. In den nächsten Wochen beschäftigten sie zwei Dinge: Hoffentlich steht sie bei der Bescherung nicht mit leeren Händen da. Und hoffentlich kann sich der Fachmann an das richtige Porträt erinnern. Und rahmt nicht aus Versehen Tori Amos oder Roger Cicero – no offense.

So kam es, dass keine sechs Monate nach dem Zusammentreffen in jenem tristen Schweizer Flur, HerrBert sein Bild von Iggy unter einem Berliner Weihnachtsbaum aus dem Geschenkpapier wickelte. Er strahlte wie ein Honigkuchenpferdchen und schaute die Frau Reiserin ungläubig an: Wie hast Du das denn angestellt? Die Frau Reiserin lächelte geheimnisvoll, lehnte sich süffisant zurück und murmelte: „Ach, das ist eine lange Geschichte“.

Jetzt noch schnell einpacken, gleich kommt der Weihnachtsmann (Foto Iggy Pop: Flavia Schaub für Baloîse Session-Kalender 2016)

Zwei Jahre später dann kamen wir wieder mit Iggy in Berührung, als wir bei einem Florida-Aufenthalt durch seinen Wohnort Coconut Grove, einem Stadtteil von Miami, schlenderten. Wir spazierten an der malerischen Stadtteileinkaufsstraße mit ihren Restaurants und schicken Geschäften. Hier soll Iggy immer mal wieder, meist barfuß, oft oben ohne und stets freundlich gelaunt unterwegs sein. Leider trafen wir ihn aber weder im Supermarkt noch in der Poststelle, und so trösteten wir uns dann im Barnacle State Historic Park und einem historischen Anwesen mit Blick auf den Golf von damals noch Mexico sowie der Insel Key Biscane, welche unerklärlicherweise immer noch Key Biscane heisst. Wir fuhren die Keys rauf und runter, waren in den Everglades und in Miami Beach – aber kein Iggy weit und breit.

Kein Iggy weit und breit: unterwegs in Coconut Grove

Anfang dieses Jahres lasen wir in einem Interview von 2023, dass Iggy Pops Arzt zu ihm gesagt habe: „Wenn Du in Rente gehst, verlierst Du den Verstand.“ Wir stellten uns den damals 75jährigen Punkrocker vor, wie er ruhelos in seinem Haus hin- und hertigerte und seine davon genervte Frau zu ihm sagt: „Mach endlich was! Nimm eine neue Platte auf oder geh auf Tour, es ist ja nicht zum Aushalten mit Dir!“ Und also ging Iggy auf Tour und in diesem Sommer sahen wir auch in Berlin ein Konzert angekündigt. Frau Reiserin plünderte wieder das Sparschwein, legte mit einem lieben Freundespaar zusammen und hatte ein weiteres Geschenk für HerrBert.

„Sein Gegenbesuch“, scherzte die Reiserin. Sofort opponierte HerrBert. „Das ist ja nun wirklich übertrieben.“ Aber die Reiserin war uneinsichtig. „Na ja, wir waren doch in Miami quasi in seiner Nachbarschaft. Können ja nichts dafür, dass er nicht da war.“ Das findet HerrBert noch bescheuerter. „Wir waren doch gar nicht bei ihm. Wir waren bloß in dem Viertel, wo er wohnt.“ – „Ja eben“, meint die Reiserin. „Und jetzt spielt er fast in dem Viertel, wo ich wohne.“ Na ja. HerrBert ist kein bisschen überzeugt. Aber er will nicht streiten, denn heute ist Konzert, Iggy Pop spielt in der Zitadelle Spandau, einer spätmittelalterlichen Befestigungsanlage mit sommerlichem Open Air-Konzertprogramm auf höchstem Niveau. Schon in der U-Bahn konnte man sehen, wer auf dem Weg dahin war: dunkle Klamotten, verwegene Gesichter – und fünf bis sieben Jahrzehnte auf dem Buckel. Und wie es ist unter Menschen, die in den Achtzigern sozialisiert wurden: gelächelt wird nicht.

Zügig füllte sich der Innenhof, Getränkestände waren in ebenso ausreichender Menge vorhanden wie pinkfarbene Dixi-Klos, über den ganzen Abend sauber und mit Handwaschbecken ergänzt. Aber das ist kein Widerspruch, denn auch Iggy Pop, kurz vor seinem 80. Geburtstag stehend, hat längst aufgehört, sich in Glasscherben zu wälzen. Vor gut zwanzig Jahren zog er nach Miami, weil ihn die Griesgrämigkeit an anderen Orten nervte, ließ sich die Zähne richten und die Haare glätten, und genießt das Leben.

Iggy Pop mit 78 Jahren: ein großartiges Erlebnis

Das Konzert war großartig. Die Energie des Überlebenden verband sich mit der Energie der Weiterlebenden. Lust for Life. No „No Fun“. Iggy ist nun mal der coolste Hund auf dem Planeten, da gibt es nichts hinzuzufügen. Nach einer guten Stunde war Schluss, Zugaben gab es keine, hat jeder verstanden.

Song des Tages: The Passenger von Iggy Pop

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