Wer auf jeden Fall gut drauf ist, als wir am Schlosshotel ankommen, ist der Jubilar vor der Eingangstreppe. Strahlend sitzt er in seinem Rollstuhl, umringt von seiner Gästeschar, alle halten goldene Ballons, die Zahl 70 schwebt über seinem Kopf. Klick Klick Klick machen die Kamera-Apps, minutenlang. „Setz dich doch mal uff seinen Schoß“ ruft eine Frau mit strengen Stiefeln und raspelkurzen Haaren, dann lacht sie wie eine heisere Hyäne. Die mutmaßliche Gattin des Jubilars tut, wie ihr befohlen, und die Ballone an den Schnüren kommen nicht mehr aus dem Wackeln heraus, weil ihre Halter sich halb kaputtlachen. Schönes Foto. Und noch eins und noch eins und noch eins. Aber reicht jetzt auch, befindet HerrBert nach fünf Minuten, und stapft die Treppe hoch zur Rezeption. Die Reiserin wartet noch, will ja nicht ins Bild latschen. Aber von oben kommt jetzt ein weiterer Gast, es ist gerade Anreisezeit und vielleicht nicht der beste Moment für eine Fotosession auf der Haupttreppe. „Lasst erst mal die Menschen durch“, bellt die Hyäne. „Sowas wie Rücksichtsnahme gibt es ja wohl nicht mehr“, befindet sie. Ihre Stimme ist schrill und hart. Die Bundestagswahl war vor zwei Wochen, die Ergebnisse stecken uns noch in den Knochen. Dieser Ton ist nichts für uns.

Wir sind nach Klink an die Müritz gereist, um zwei Tage zu relaxen, ein unschlagbares Package mit Sauna, Schwimmbad und Ruhe. Die freundliche Frau an der Rezeption findet unsere Reservierung nicht. Hinter uns beginnen sich die Leute zu stauen. HerrBert schaut nochmal ins Handy. „Mist, war für gestern“, murmelt er. Hat sich im Termin vertan. Frau Reiserin gesteht der Rezeptionistin den Fehler, kein Problem, sagt diese gefasst, jetzt wisse sie wenigstens, woran es liegt. Ein paar Minuten warten und schon ist alles geregelt und ein Zimmer für uns bereit. Falls wir morgen auf die turnusmäßige Zimmerreinigung verzichten, gibt es auch gleich noch zwei Gutscheine für ein Softgetränk. Noch eine kleine Einweisung über dieses und jenes, dann ziehen wir los in den schicken Nebenbau direkt am Wasser. Auch das Zimmer ist nett, leider aber nicht gereinigt, ein Planungsfehler. Frau Reiserin schleicht zur Rezeption, verkündet das Problem, kein Problem für die Rezeptionistin, sie hat ein anderes Zimmer für uns. Ebenfalls direkt am Wasser, ebenfalls sauber und gemütlich, in der Badewanne ein dekorativ zur Blüte gefaltetes Handtuch. Der Putztrupp wie auch ein Großteil der Kellner und Kellnerinnen, denen wir in diesen zweieinhalb Tagen in diesem Teil von Mecklenburg-Vorpommern begegnen, scheinen aufgrund von Aussehen oder Sprache Migrationshintergrund zu haben, ausnahmslos alle von ihnen, mit denen wir zu tun haben, sind freundlich, sprechen Deutsch und leisten gute Arbeit.

An diesem Abend noch eine kleine Runde am Ufer, das andere Ende des Sees liegt in der diesigen Unendlichkeit, Deutschland kann so schön sein. Die Festgesellschaft zum 70. feiert nebenan, bevor wir die Hyäne mit ein paar Leute ihresgleichen mit Sektgläsern in der Hand in der Raucherecke sehen, hören wir ihr brüllend gellendes Lachen. „Hoffentlich gehen die nicht alle nachher noch in die Sauna“, murmelt HerrBert. Der Spa-Bereich ist nämlich bis um 22 Uhr geöffnet. Während er schnurstracks in einen der zahlreichen Schwitzräume strebt, planscht Frau Reiserin erstmal eine Runde im großen, babywarmen Innenpool.
Außer ihr ist nur eine Frau mit freundlichen Augen da. Sie strahlt die Reiserin an und sucht das Gespräch. Bald ist klar, es handelt sich um eine Einheimische. Anders als in anderen Wellness-Anlagen der Hotels in diesem Kurort, dürfen Einheimische diese Anlage abends ab 18 Uhr betreten und benutzen – für 4 Euro pro Stunde, was die freundliche Frau als absoluten Glückfall bezeichnet. „Soll sich aber nicht rumsprechen“, sagt sie. Sie hat es von einer Mitsängerin im Chor erfahren, die ebenfalls gerade in der Sauna ist. Die Frau ist hellauf begeistert, plantscht voller Wonne, lobt die Anlage über alle Maßen und erwähnt dann, dass ihr Bruder hochbegabt sei und ihr schon immer gesagt habe, sie sei minderbemittelt. Die Reiserin ist empört. Aber eine Ärztin, bei der sie sich etwas gegen ihre schmerzenden Schultern verschreiben ließ, habe ihr bescheinigt, dass auch sie „ein geliebtes Kind Gottes sei“, und das täte ihr gut. Die Reiserin nickt zustimmend. Genauso ist es, Gott hin oder her. Eine Weile unterhalten sie sich noch, dann meint die nette Frau, dass sie bestimmt zuviel geredet habe, aber sie lebe alleine und ihre Katzen hätten das „alles schon gehört“. Frau Reiserin beruhigt sie. Aber nein, im Gegenteil, ist doch schön, dass mal nicht alle nur ins Handy starren. Freundlich verabschieden sie sich und Frau Reiserin wünscht sich, dass die Welt milder würde und nicht immer brutaler.
Kurz darauf findet sich HerrBert in dem äußerst geschmackvollen Ruheraum vor den Saunen. Kurz kommt die freundliche Frau später nochmal vorbei und weist darauf hin, dass ein kleiner Weg vor dem Spa-Bereich direkt herunter an die Müritz führe und man dort nach wenigen Schritten die Füße im See abkühlen könne. Frau Reiserin ist ein bisschen stolz, dass sie nach nur wenigen Stunden Aufenthalt schon eine Einheimische kennt, und darüber hinaus eine, der direkt zuzutrauen wäre, dass ihre Lieblingsfarbe nicht dunkelblau ist.

Der nächste Tag ist ebenso diesig und sonnig wie gestern, die Müritz wunderschön und wir machen einen kleinen Spaziergang durch Wald und Felder ins Nachbardorf und zurück. Auf den letzten paar hundert Metern weist uns eine Spaziergängerin darauf hin, dass vorne „ein Baum gefällt“ werde, das könne dauern, besser, man nehme hier den Weg durchs Dorf, sie weist uns eine Abkürzung. Auch sie eine Einheimische. Der Umweg ist super, wir kommen nicht nur durch die säuberlichen Einfamiliensiedlungen dieser Ortschaft, sondern auch an einem Baum vorbei, den HerrBert schon von weitem berufsbedingt und ungewohnt nachdrücklich bestaunt. „Diese riesigen Kienäppel! Diese wahnsinnig langen Nadeln! Das ist keine normale Kiefer.“ Und tatsächlich, ein Schild informiert, dass es die einzigartige Jeffreys Pinie ist, von der es in Deutschland nur drei Exemplare gibt: zwei in Berlin und eine hier. Heimisch ist der imposante Baum – im Yosemite-Nationalpark in Kalifornien. „Na siehste“, meint HerrBert und freut sich, dass wir dieses Naturdenkmal des Ortes zufällig gefunden haben.

Der Rest des Tages: Die Müritz im diesigen Vorfrühlingslicht, über uns kreisen Raubvögel, der Himmel ist blass und prächtig, wird gegen Abend dunkelblau. Gerade kein gellendes Gekeife zu hören, hoffentlich täuscht das nicht und möge es so bleiben.

Song des Tages: „Eagle“ von Abba
Eine seltsame Sehnsucht überkommt immer die Frau Reiserin, wenn sie dieses Stück hört. Minutenlang kreiste heute ein riesiger Adler im wolkenlosen, dunkelblauen Himmel über uns.
