So langsam sind wir zurück im Hier und Jetzt. Der Schlaf kommt (und geht) wieder zur sozialverträglichen Zeit. Der Alltag hat uns wieder.
Und das heißt auch: selbst dafür sorgen, dass er nicht grau und langweilig wird. Man will ja nicht nur für die nächste Reise leben. Seit einiger Zeit frequentieren die Frau Reiserin, HerrBert und ein paar Freunde jede Woche den American Western Saloon in Berlin-Reinickendorf. Der Reiserin wurde nämlich vor einer Weile klar, dass sie in diesem Leben noch Line Dance lernen will. Hat sie mal in einem Film gesehen und fand es cool: ein Dutzend Cowboys und -girls, die alle gleichzeitig dieselben lässigen Tanzsschritte machen. Das sah nach Spaß aus.

Und man kann es auch in Berlin lernen. Unter anderem in einem kuriosen Lokal am nördlichen Stadtrand. Der Western Saloon ist ein liebevoll im authentischen Westernstil eingerichtetes Restaurant an einem Ort, wo man es nicht erwarten würde. Er liegt im Souterrain eines brutalistischen Mehrzweckgebäudes im Märkischen Viertel. Das Märkische Viertel ist eine Überbauung aus Betonhochburgen aus den 1970er Jahren – bei den Neu-Prenzlauer Bergern mitleidig gefürchtet, von eingeborenen West-Berliner oft hochgeschätzt wegen günstigen Wohnungen mit super Aussicht. Und wegen dem American Western Saloon.

„Authentischer Westernstil“ bedeutet: durchgängige Holzvertäfelung, an die Decke getackerte BHs, Whiskyflaschen und Dollarscheine, Longhorn- und sonstige Geweihtierschädel mit und ohne Plüsch, ein mit Spiegelplättchen beklebter Cowboyhut als Discokugel – und ein Chef, der problemlos als Statist bei den „Waltons“ hätte mitspielen können. Wöchentlich finden hier Line Dance-Kurse und an den Wochenenden häufig Tanzveranstaltungen statt.
Die meisten, die hier mitmachen, kommen aus der Gegend. Besucher aus den zentraleren Bezirken – wie die Reiserin, HerrBert und ihre Freunde – wurden am Anfang eher misstrauisch gemustert. Doch wir üben den Chattahoochie, den Country Walking, den Rocket To The Sun, den Copperhead Road ganz ernsthaft, unironisch und im Schweiße unseres Angesichts – mit Heidenrespekt und Bewunderung für die alten Hasen hier, die mehrere Dutzend Schrittfolgen leichtfüßig und auswendig beherrschen und teilweise seit vielen Jahren üben. Line Dance ist nämlich höllenanstrengend und fürs Hirn Hochleistungssport.

Unsere Lehrerin, mehrfache Meisterin im Linedance, kennt keine Gnade. Erst einzelne Schritte, langsam und in Endlosschleife, dann alle Schrittkombinationen eines Tanzes zusammen, und zum Schluss alles mit Musik. Meist schnelle Musik, die es erforderlich macht, die gerade erst mühsam eingeprägten Schritte im Schnellvorlauf abzurufen, um bloß nicht den Dominoeffekt auszulösen. Ein Merkmal von Line Dance ist, dass sich die Truppe nach jeder Schrittfolge um 90 Grad dreht – „nächste Wand“ heißt das. Und wer sich falschrum dreht, löst gerne mal den Dominoeffekt aus…
Die alten Hasen sehen geduldig darüber weg, wenn die Anfänger mal wieder im Weg rumstehen, und auch die Lehrerin hat noch die sperrigsten Bewegungslegastheniker am Ende in den Groove gekriegt. Wenn sie krank ist, springt ihre Teenagertochter ein, die uns nicht ganz so zackig, aber ebenso geduldig hoppeln lässt. Das Kursgeld wird davor oder danach einfach in eine Schüssel gelegt. Hier funktioniert das Leben noch einfach und bar.

Aber man muss gar nicht tanzen, um diesen Ort zu mögen. Es gibt hier auch mächtige Burger, knusprige Pommes und ein paar andere amerikanische Spezialitäten im oberen Kalorienbereich. Der American Western Saloon ist ein Geheimtipp in Berlin – möge ihn auch weiterhin niemals ein ironischer Hipster oder ein selfiesüchtiges Instagram-Cowgirl betreten.
Song des Tages: Copperhead Road von Steve Earle
Der einzige Wermutstropfen am Line Dance-Kurs im märkischen Viertel ist die oft schauderhafte Country-Pop-Schlumpfmusik, zu der die Tänze geübt werden. Aber es gibt Ausnahmen – zu diesem Stück kann man sehr lässig hüpfen und stampfen.
