Gestern Abend verschlug es uns an die Letteallee in Reinickendorf. „Ins entlegene Reinickendorf“, will die Reiserin schreiben, doch HerrBert runzelt sofort die Stirn. „Das ist nicht entlegen! Das ist zehn Fußminuten von meiner Wohnung entfernt. Außerdem ist es fast Wedding. Und der Wedding ist schon fast Mitte.“ Na gut. Nicht entlegen. Eine Gegend für echte Berliner mit einer reellen Mischung aus Kleingewerbe und Eckkneipen in der Nähe der U-Bahn-Station Osloer Straße. Dort soll ein kleines Theater für Comedy, Tango und Musik eröffnet worden sein. Frau Reiserin hatte früher mal beruflich mit Kleinkunst zu tun, und horchte deshalb auf. Für den Abend kündigte das Programm eine Kapelle namens „Drückerkolonne“ an. Musikstil: MusettePolkaUmpaPunk. Das klang interessant. Also stiefelten wir durch den Regen und fanden uns vor einer schwach aber einladend beleuchteten Fassade wieder. „Showfenster“ stand dran, hier waren wir richtig.

Auf den ersten Blick sah das Lokal aus, als ob hier vor 100 Jahren schon Claire Waldoff und Otto Reutter auf der Bühne gestanden hätten: an den Wänden dunkle Holzplatten, vor der Bühne zusammengestückeltes Samt- und Plüschmobiliar, am Eingang ein kleiner Biertresen, wie man ihn aus gut vergilbten Spelunken kennt. Nur, dass hier nichts vergilbt oder verraucht war. Jedenfalls nicht mehr. Denn eine Eckkneipe war hier tatsächlich mal, wie uns der Theaterchef verriet: Ein im Geschäft der Automatenaufstellerei brillierender Unternehmer gönnte sich hier seine Wunschkneipe und liess sich in den 1980er Jahren eine Einrichtung im alt-Berliner Stil reinbauen. Davor war eine Fleischerei drin. Und jetzt? Ist es ein bezauberndes Theater, wo man auch einfach auf ein Bier vorbeigehen kann.

Als wir kamen, machte die Kapelle noch Soundcheck, der Theaterchef höchstpersönlich regelte den Ton. Die Theaterchefin verkaufte unterdessen die Tickets, begrüßte die Gäste und schenkte am Bartresen Getränke aus. „Die beiden sind in der Szene sehr bekannt“, informierte die Reiserin HerrBert. „Er heißt Gerd Normann und ist Kabarettist. Sie heißt Lina Lärche und macht Chansoncomedy. Sie treten auch gemeinsam auf.“ Aha. HerrBert guckte sich um. Schöner Laden, gut ausgebaut, angenehme Stimmung. Leider nicht ganz voll. „Das ist, weil die erst vor vier Wochen aufgemacht haben“, belehrte die Reiserin. „Während der Pandemie hat Gerd Normann im Schaufenster eines Optikergeschäfts Comedy veranstaltet und die Leute konnten draußen zugucken“, weiß sie zudem. Hm, keine schlechte Idee, befindet HerrBert. „Ging noch weiter“, sagt sie. „Das lief so gut, dass sie dann eine mobile Bühne bauten und in Parks spielten. Und dann in einer Shoppingmall. Und jetzt hier.“ Nicht übel, murmelt HerrBert. Selbermachen ist ihm sympathisch.

Jetzt ist auch die Band so weit. „Warum ist bei einem Tanzkonzert gestuhlt?“, HerrBert kratzt sich am Kopf. Das weiß die Reiserin auch nicht. „Weil wir in einem Theater sind?“, schlägt sie vor. Egal, die Band legt los und sofort beginnen die Sitzenden wild zu wippen. Trauen sich aber nicht aufzustehen. Ist ja schließlich ein Theater. „Ihr seid zu träge!“, ruft irgendwann der Sänger, der engsitzende Glitzerleggings mit einer strassbesetzten Sonnenbrille und Heavy Metal-Posen verbindet – dabei aber emotionale deutsche und französische Texte singt, währen der französische Gitarrist einen wilden Polkarhythmus vorgibt, der Stehbassist diesen unterstreicht und der Schlagzeuger im rosa Plüschoverall auch Mandoline spielt. Schräge Truppe, wilde Mucke, reimt die Reiserin.

Jetzt stachelt der Sänger die Wippenden auf: „Stellt die Stühle weg und tanzt!“ Ob das im Sinne der Besitzer ist? Definitiv, der Chef räumt eigenhändig das Mobiliar zur Seite, während die Chefin hinter der Bar tanzt und im atemberaubend schnellen Takt mitklatscht. Ganz überraschend dürfte es für die beiden nicht sein, dass die Band kein Kammerkonzert gibt – Gerd Normann hat die Drückerkolonne zu Pandemiezeiten entdeckt und der Kapelle zu ihrem ersten bezahlten Auftritt überhaupt verholfen. Wir sind gut 20 Leute, aber die Stimmung kocht wie 100. Unter zwei Zugaben kommt die Band nicht weg. Hinterher sitzt sie noch mit am Tresen und erzählt, dass sie sich eher zufällig formiert hat. „So ein schöner Abend“, meint HerrBert, als wir durch den Regen nach Hause gehen. Vergessen der Irrsinn und Trübsinn, der immer näherzukommen scheint. Ist das Eskapismus? Definitiv. Muss das sein? Wir sagen: Manchmal ja. Wir beschließen: Das nächste Mal gucken wir uns hier Comedy an. Oder eine Lesung. Oder die Mix-Show. Oder wir gehen zum Afterwork-Tanzen. Gibt es im entlegenen Reinickendorf jetzt nämlich alles auch.
Das Showfenster-Theater hat täglich geöffnet, demnächst gibt es ab Nachmittag auch Kaffee. Programm unter www.showfenster-show.de
(Hinweis: Wir haben unsere Tickets und Getränke selbst bezahlt und sind nicht mit dem Theater verbandelt.)
Song des Tages: „Bonjour l’étranger“ von der Drückerkolonne
Räumt die Stühle zur Seite und tanzt!
