Wale sind bekanntlich Frühaufsteher. Gerade auch die, die an der Meeresoberfläche Pipifax für Menschen machen – ihren Buckel zeigen, mit der Schwanzflosse winken und ausatmen wie kleine Geysire. Gerade diese diensthabenden Tourismuswale machen ausnahmslos Frühprogramm. Sagen dann bestimmt bevor sie losschwimmen, daß sie zum Frühstück wieder zurück sind und frische Schrippen vom Bäcker mitbringen, während ihre anderen Familienwale noch weiterschlafen können.

Diese Wale wollen wir sehen, darum müssen wir an unserem letzten Tag in Mexiko ebenfalls früh aufstehen. Sogar sehr früh, denn wir müssen ja noch zu den Walen hin. Um 8 Uhr sollte es bereits losgehen und die Mole, wo unser Walbeobachtungsboot wartet, liegt von unserem Quartier aus gesehen am anderen Ende des Yachthafens. Im Gegensatz zur Kolonie der dicken Seelöwen, die in der ruhigen Coronazeit das Hafenbecken als ideales Quartier in Besitz genommen haben, und nach Wiederinbetriebnahme der touristischen Ausflugsfahrten und lautstarken Abendpartys einfach geblieben sind, kommen die Wale nicht zu den Menschen. Die Seelöwen planschen zu jeder Zeit lustig trötend zwischen den Booten im Hafenbecken und an den Piers von Cabo San Lucas herum, aber das ist eine andere Geschichte.

Vier ruhende Seelöwen liegen nebeneinander auf einem Holzsteg am Wasser, im Hintergrund Boote und Gebäude
Eine andere Geschichte: Während der Pandemie haben Seelöwen den Yachthafen von Cabo San Lucas in Besitz genommen und sind geblieben

Die Begeisterung der Reiserin über das Frühaufstehen hält sich in Grenzen. Außerdem fällt ihr ein, dass wir vorher unbedingt noch Bargeld ziehen müssen, um der Bootscrew Trinkgeld zu geben. Den Einwand von HerrBert, dass es keine Pflicht zum Trinkgeldgeben gibt, fegt sie vom Tisch. Seit sie las, dass die mexikanische Regierung gerade um einen Mindestlohn von umgerechnet 15 Euro ringt – am Tag! – kommt bei ihr in Mexiko keine Dienstleistung mehr ohne Trinkgeld aus. Kurz nach Sonnenaufgang machen wir uns also auf den Weg. Noch sind alle Lokale und Geschäfte zu, und auch die unzähligen fliegenden Händler für dieses und jenes, die als unermüdliche Helden des Direktverkaufs sonst den Hafenspaziergang zum Spießrutenlauf machen, drehen sich bestimmt gerade noch einmal im Bett um.

Wir irren auf der Suche nach einem funktionierenden Geldautomaten zwischen den Piers und Promenaden herum. Geräte gibt es hier genug, aber sie sind alle außer Betrieb. HerrBert mutmaßt, ob das mit der möglichen Verlockung zusammenhängt, die solche Geräte auf eine Bevölkerung ausüben könnten, deren Armutsrate bei 35% liegt. Auch der vierte und fünfte Automat, den wir finden, ist außer Betrieb und beim sechsten klappert die unterhalb des Bildschirms angebrachte Plastikabdeckung mit aufgebrochenem Schloss lose im frühmorgendlichen Wind. Gleichzeitig blinkt das Display verführerisch. Die Reiserin vermutet sofort einen Betrügertrick, aber HerrBert bleibt unbeirrt. Das Walboot wartet und bares Trinkgeld muss her.

Yachthafen mit vielen Jachten und Häusern im Hintergrund unter bewölktem Himmel
Gibt’s hier irgendwo Bargeld?

Flugs versenkt er die Karte im Einzug des Automaten. Ein Kreischen als Zeichen des Zerschredderns bleibt ebenso aus wie ein schallendes mexikanisches Automatenlachen über die Blödheit von Gringo-Touristen. Das Display blinkt betriebsam die vorgegebenen Felder ab, die HerrBert mit besten ihm möglichen Tastaturdrückungen beantwortet. Er navigiert sich trotz des ängstlichen Gezeters der Reiserin beherzt durch diese an sich schon tückische Aufgabe, welche im Ausland nicht nur immer viel mehr abfragende Felder aufruft als das gewohnte deutsche Display, sondern die Spracheinstellung für „English“ meist an einem Ort versteckt, wo sie erstmal nicht zu finden ist. Und rappeldibuschnippschnapp rattert und surrt der ob seiner schwerverletzten Gehäuseabdeckung bestimmt leidgeprüfte Automat, und versieht gehorsam seinen Dienst, indem er die gewünschte Anzahl von Zweihundert-Peseten-Scheinen mit jeweiligem Wert von zehn Euro ausgibt.

Eigentlich müssten Fanfaren erklingen, Mariachibands herbeieilen und aufspielen und mexikanische Fahnen schwenkende Menschenmassen kommen, um dem Automaten gebührend Ehrerbietung zu bezeugen. Doch dazu ist keine Zeit. Wir eilen zum Boot, wo gerade ein knappes Dutzend anderer Frühaufstehertouristen eintrudelt und kurz darauf ein energisch drahtiger Guide dazuspringt, um uns alle erstmal mit signalroten Schwimmwesten und Informationen zu versorgen.

Die Walbeobachtungssaison beginnt in dieser Gegend gerade erst. Genauer gesagt, ist es der erste Einsatz der Saison für den erfahrenen Guide. HerrBert ist glücklich, dass sich uns am letzten Urlaubstag diese Möglichkeit noch bot. „Der Kapitän hat in den letzten Tagen schon viele Wale hier gesehen. Nicht wahr, Capitano?“, sagt der Guide, und wie zur Bekräftigung gibt der Kapitän Gummi und wir brausen in spritzender Gischt aufs freie Meer hinaus.

Die unterste Spitze von Baja California

„Da!“, der Capitano verlangsamt das Boot und der Guide zeigt nach links vorne. „Am Horizont! Wale!“ Synchron richten wir uns in die gezeigte Richtung aus, wo kurz vor der Unendlichkeit zwei kleine dunkle Flecken zu erkennen sind. Im gefühlten Schrittempo pirscht sich unser Boot heran und die Reiserin hört in ihrem inneren Ohr die spannungsgeladenen Töne der Filmmusik von „Der weiße Hai“. Tatsächlich: Ungefähr zehn Meter entfernt sehen wir atemlos den obersten Teil eines schwarzen Rumpfes über der Wasseroberfläche, gefolgt von einer riesigen, formvollendeten schwarzen Schwanzflosse, die für kurze Zeit aus dem Wasser steigt. Sofort kreischt die Japanerin an Bord in schrillsten Tönen „Oh my god! Oh my god! Oh my god!“ Ungefähr eine Minute lang sehen wir daraufhin die ulkigen Wasserfontänen, die jetzt an zwei Stellen aus dem Wasser schießen. Dann ist das Schauspiel vorbei. „Jetzt tauchen sie ab“, informiert der Guide. „Und sie können ziemlich lange unter Wasser bleiben“. So vierzig bis fünfzig Minuten. Und das tun diese Wale auch. Wir fahren beseelt und begeistert weiter.

„Auf spiegelglatte Wasserflächen zwischen den Wellen achten“, sagt der Guide. „Daran erkennt man, dass sie direkt unter der Oberfläche sind“. In den nächsten eineinhalb Stunden gleiten also die Blicke von vierundzwanzig Argusaugen wie Suchscheinwerfer über den heute Morgen feinwelligen Ozean. Hin und wieder Aufregung, „da! da!“ Einmal sichten wir noch kurz eine Schwanzflosse, aber ohne Wasserfontäne. Und einmal sind nicht nur zwei, sondern ungefähr vierzig dunkle Flächen zu sehen – eine Delfinschule. In rhythmischen Wogen schwimmen sie minutenlang neben unserem Boot und zeigen abwechselnd die Rückenflosse und die Schnauzen. Andächtig sinniert die Reiserin darüber, dass die Tiere gar nicht grau und glänzend aussehen, wie sie vermutet hatte, sondern matt und pechschwarz, ungefähr wie der Lackierungstrend teurer Autos, die sie gelegentlich in Berlin parken sieht. Sicher zehn Minuten begleiten uns die Delfine, dann verschwinden sie aus unserem Blickfeld. Wale lassen sich keine mehr sehen.

Nahaufnahme eines schwimmenden Delphins mit Atemloch im Meer
So ein schöner Delphin!
(Fotografiert von unserem Guide von True Baja während unserer Tour)

Jetzt, zu Beginn der Saison, kommen die Wale aus Alaska nahe an die mexikanische Küste. Hier raufen die Männchen um die Gunst der paarungsbereiten Weibchen, diese nutzen die geschützte Lage des sehr tiefen und vergleichsweise warmen Meeres in Küstennähe, um ihre Babywale aufzuziehen. Nur halt noch nicht heute. Jetzt, am 1. Dezember, hat die Saison gerade erst begonnen. Und das Meer ist nun mal kein Zoo.

Als wir am späten Vormittag wieder im Hafen eintreffen, hat dort schon der übliche Tagesbetrieb angefangen. Fliegende Händler grüßen im Sekundentakt, „Hola, amigo!“, um Strohhüte, rezeptfreie Psychopharmaka und Bootstouren an den Mann und die Frau zu bringen. Restaurants buhlen mit Komplimenten um neue Gäste „Sexy Kleid, Senora“ und „Are you honeymooners?“ zu kurz vor dem Rentenalter stehenden Passantenpaaren. Dazwischen tröten und flatschen die gutgenährten Seelöwen im Hafenbecken herum. Business as usual in Cabo San Lucas. Von Einheimischen wird es auch Cabo San Loco genannt – das verrückte Cabo.

Für uns ist es der letzte Tag, und natürlich bekommen der Guide und der Kapitän ihr Trinkgeld.

Delphin im Meer mit spritzendem Wasser
Das Bild des Delphins hat unser Guide von True Baja während unserer Tour gemacht, danke!

Song des Tages: Paikea’s Whale von Lisa Gerrard

Die Sängerin von Dead Can Dance hat für den Film Whale Rider eine atmosphärische intensive Filmmusik geschrieben. Im Mythos der Maori spielt der Wal eine zentrale Rolle.

Das gesamte Live-Tagebuch unserer Reise ist hier zu lesen.

Das Aufmacherfoto und die entsprechend gekennzeichneten Bilder dieses Beitrags hat der Guide unserer Tour von True Baja gemacht, danke!

Hinweis: Wir haben alle unsere Touren und Ausflüge in Mexiko selbst bezahlt und stehen nicht in Verbindung zu diesem oder anderen Unternehmen, die Touren anbieten.