Neulich, am Sonntag der Berlin Art Week, saß die Reiserin auf dem Vorplatz der Neuen Nationalgalerie. Es war ordentlich was los, aber ihr war nicht so richtig nach Kunst, darum ging sie nicht rein, sondern setzte sich an den Rand der großen Freitreppe und schaute sich die Schuhe der Leute an. An der Art Week tragen die Leute immer sehr viel exorbitantere Schuhe als sonst. Keine langweiligen weißen Sneakers, sondern irgendwas mit Gold oder zumindest mit wahnsinnigen Absätzen. Und auch viel originellere Klamotten. So war es auch jetzt. Aber das war nicht der Grund, warum die Reiserin da war. Sie wartete auf ihre Freundin Judith. Und sie hatte ein kleines Rentierglöckchen in der Tasche. Die Freundin Judith ist eine große Verehrerin der Künstlerin Yoko Ono. Ihr gefällt, dass diese der Welt mit Freundlichkeit und einer Art kindlichen Naivität begegnet und das Einfache und Gute propagiert, für alle und zum Mitmachen.

Seit einer Weile hat Yoko Ono eine Ausstellung in der Neuen Nationalgalerie, und die endete am Sonntag. Und zwar mit einer Performance, die Ono erstmals 2019 aufführte. Sie heißt „Bells for Peace“ – Glocken für den Frieden – und besteht darin, dass zu einer bestimmten Uhrzeit so viele Menschen wie möglich sich versammeln und gemeinsam ungefähr eine halbe Stunde mit mitgebrachten oder vor Ort verteilten Glocken gemeinsam bimmeln und dabei ein paar einfachen Sätzen lauschen, die Yoko Ono in einem monotonen Singsang eingesprochen hat. Sätze wie „Klingelt für den Frieden. Klingelt für die Bäume. Klingelt von Herzen. Klingelt für das Universum. Klingelt laut. Klingelt sanft.“ Typische Yoko-Ono-Sätze, die man mögen oder nicht mögen kann, die man banal oder weise finden kann. Die man aber auf jeden Fall versteht, und denen man auch nicht ernsthaft widersprechen muss.

Und so stehen um kurz vor 17 Uhr immer mehr Kunstinteressierten mit tollen Schuhen und schicken Klamotten herum, Eltern mit Kindern kommen dazu, Partypeople, alle möglichen Figuren, was erstaunlich ist, weil die Mitmachperformance nur wenig beworben wurde. Hin und wieder hört man ein leises Vorabbimmeln, die Besucher prüfen wohl, ob ihre Glocke geht. Ein Mädchen, das sich nebenan auf die Treppe setzt, hat ein kleines, scheinbar selbstgebasteltes, bemaltes Glöckchen aus einem winzigen Tonblumentöpfchen dabei, was die Reiserin sofort in friedlichstmögliche Stimmung versetzt.

Um kurz vor 17 Uhr informiert eine Stimme über Lautsprecher, dass diejenigen, die noch keine Glocke haben, sich vor dem Eingang des Museums eine abholen können. Die inzwischen den gesamten Vorplatz füllende Menschenmasse gerät scheinbar in Aufregung, denn die Stimme erinnert gleich darauf, dass die Performance „Bells for Peace“ heiße und dass man daher darauf verzichten möge, um die verbliebenen Glocken zu kämpfen.
Die Reiserin hat ihr eigenes Instrument dabei: ein kleines Rentierglöckchen aus Finnland, dessen blaues, gewobenes Band den traditionellen Mustern der Sami nachempfunden ist. Und auch Judith, die mit ihrem Mann inzwischen eingetroffen ist, hat sich ausgerüstet – sie hält das Weihnachtsglöckchen in der Hand, mit dem früher für ihre Kinder die Bescherung eingeläutet wurde.

Dann meldet sich wieder die Stimme aus dem Lautsprecher: Gleich, um Punkt fünf, werden die Glocken der St. Matthäus-Kirche am Kulturforum anfangen zu läuten, und das sei der Start der Performance. Die Anwesenden sollen, während sie ihre Glocken schwingen, den Anweisungen von Yoko Ono folgen, die nicht nur über Lautsprecher, sondern auch auf einigen Monitoren übertragen werden. Und dann ist 17 Uhr, die Kirchenglocken und eine große Glocke auf dem Vorplatz der Neuen Nationalgalerie beginnen zu schlagen, und für ungefähr zehn Minuten ist alles nur noch Bimmeln. Laut und leise, für die Bäume und das Universum, mit dem Herzen und für den Frieden, so, wie die Künstlerin es wünscht. Nach ungefähr einer Viertelstunde mischt sich dann aus den Boxen ein Ufz-ufz-Rhythmus dazu und Yoko Ono singt etwas von „Witchcraft“, Hexenwerk, und auch eine Technoversion von „Give Peace a Chance“ erklingt. Das ist der Song, den Onos Ehemann John Lennon 1969 geschrieben und mit ihr zusammen als Plastic Ono Band aufgenommen hatte. Wie in Berlin beim Erklingen von elektronischer Musik üblich, fangen die Menschen gleich an, im Outdoor-Party-Schritt hin und her zu wogen, dabei wird weiter frenetisch gebimmelt. Nebenan fallen die ersten Witze. „Jetzt klingeln wir schon seit einer Viertelstunde und keiner macht auf“, sowas in der Art. Ein wenig bimmeln und wogen wir noch mit, dann, befinden wir, ist Zeit zu gehen. Noch ein letztes Mal schwingen wir unsere Glöckchen, während wir den Schauplatz verlassen, und hoffen, dass Yoko Onos Magie irgendwo auf der Welt ein kleines bisschen nützt.

Song des Tages: Universal Soldier von Donovan
Geschrieben von der Songwriterin Buffy Sainte-Marie, wurde das Lied in der Version von Donovan 1965 zu einer Hymne der Anti-Kriegsbewegung. Eine deutsche Version veröffentlichte Bettina Wegner 1982 unter dem Titel „Soldaten“.
