Blick vom Bug eines Bootes auf den Regent's Canal in London mit Hausbooten und grünen Bäumen unter blauem Himmel mit freundlichen Wolken

Wie die Reiserin in London einmal in ein Quäkermeeting geriet, zweiter Teil. Der erste Teil steht hier.

Heute steht die unauffällige braune Holztür an der St Martin’s Lane in Covent Garden weit offen. Das Schild hängt immer noch da: drop-in silence. „Wir bringen Frieden, Ruhe und Stille in Londons lebhafte Straßen. Kostenlos für alle, jeden Freitag von 17.30 bis 19 Uhr.“ Zusätzlich wirbt ein Aufsteller für das Angebot. Zur Sicherheit lese ich nochmal alles durch: wirklich kostenlos und ohne Verpflichtung? Wirklich nicht nur für Mitglieder oder Anwärter?

Während ich lese, beobachtet mich eine Dame mittleren Alters hinter der Glastür. Sie wirkt schüchtern. Verhalten stoppt sie ihren Impuls, die Tür aufzureißen, als ich noch lese. Erst als ich suchend in den Eingang blicke, öffnet sie die Tür und lächelt mich freundlich und irgendwie verlegen an. „Kommen Sie zum ersten Mal hierher?“ flüstert sie, als ich im Eingangsflur stehe. „Ja“, flüstere ich zurück. „Ich bin nur Besucherin und neugierig.“ – „Das ist gar kein Problem. Willkommen“, flüstert sie. „Ich bringe Sie zum Versammlungsraum. Dort können Sie sich hinsetzen wo Sie wollen und bleiben, so lange Sie möchten. Nur bitte machen Sie das Handy leise.“ Das habe ich schon erledigt, jetzt folge ich ihr durch den schmucklosen Eingangsflur.

Ein hagerer Mann mittleren Alters in einem modernen Anzug, aber mit einer merkwürdigen, altmodischen Frisur, sitzt an einem Tisch mit Broschüren und Papieren. Er lächelt mich auf eine Weise an, die mir irgendwie übertrieben euphorisch erscheint und an den glücklosen Autohändler in dem Film „Fargo“ der Coen-Brüder erinnert. Die schüchterne Frau eilt voran durch eine Schwingtür, die uns in eine Art kleinen Lesesaal führt. Alles ist schlicht und eher altertümlich eingerichtet, und wirkt doch einladend und hell. Das kommt von den raffiniert angebrachten, inliegenden Fenstern, die das Tageslicht unauffällig aber wirkungsvoll in alle Ecken der verwinkelten Zimmer lenkt. Von der Bibliothek gehen zwei verglaste Türen in einen weiteren Raum ab. Sie deutet auf die linke der beiden. „Bitte, hier herein. Nehmen Sie Platz, wo Sie möchten.“

In London gibt es viele stille Orte… (Regent’s Canal)

Ich trete durch die Tür und einen dichten Wollvorhang in den Versammlungsraum und setze mich in eine Banknische an der Wand neben der Tür. Es ist ein ruhiger, schlichter Raum mit halbhoher Vertäfelung aus honigfarbenem Holz, Parkettboden und einer Lampe aus den Fünfzigerjahren. Ein bisschen wie eine kleine Aula, ein bisschen wie ein Gemeinderaum oder der Festraum eines altmodischen Restaurants, aber ohne Tische. Ungefähr fünfzig einfache Holzstühle sind zu einer Art Oval um einen Tisch gruppiert, auf dem ein bescheidener Strauß mit Wiesenblumen steht. Fast alle Stühle sind leer. Nur in der Reihe direkt vor dem Blumenstrauß sitzt ein dunkel gekleideter, älterer Mann mit schwerem, rasiertem Schädel. Kurz blickt er mich prüfend an, als ich so leise wie möglich reinkomme, dann lässt er den Blick wieder auf den Blumen ruhen. Ganz am Ende des Raumes sitzt eine schmale Person mit gesenktem Kopf, die ich nicht näher identifizieren kann. In dem Raum ist es wirklich still und diese Ruhe erreicht mich, kaum dass ich mich hingesetzt habe.

…aber weder der Hyde Park, wo diese Plastik des Künstlers Simon Gudgeon steht…

Für ein paar Minuten tue ich gar nichts. Ich sitze einfach auf der Holzbank in einer Art Nische, es ist bequem, ich rieche das Holz, leicht gefiltertes Herbstlicht kommt durch die geschlossenen Fenster an der Wand gegenüber. Es ist angenehm. Auch der Mann mit dem schweren Kopf scheint sich hier wohl zu fühlen. Er hat die Augen nicht geschlossen, sitzt bequem. Ein bisschen wie im Kino, wenn man auf den Anfang des Films wartet oder im Bus, wenn man ohne Eile an das Ziel fährt. Eine Weile lässt er den Blick schweifen, dann faltet er die Hände und senkt den Kopf. Die Person am anderen Ende des Raumes scheint immer noch im Gebet. Auch sie wirkt entspannt und gleichwohl hochkonzentriert.

Nach einer Weile schließe auch ich die Augen. Ich bin hellwach und gleichzeitig von einer unerwartet sanften Ruhe erfüllt, was mir sonst an einem fremden Ort nicht leicht gelingt. Ich sitze bequem und bin bereit, die Gedanken schweifen zu lassen. Aber sie wollen gar nicht schweifen. Sie rollen sich zusammen wie Katzen in ihrem Körbchen und liegen einfach ruhig da, während ich sitze und mich wohl fühle und gar nichts anderes will. Nach ein paar Minuten öffnet sich die Tür erneut und ein Mann mit grauen Haaren, Trenchcoat und einem Aktenkoffer kommt herein. Ohne Zögern steuert er zu einer kleinen, etwas erhöhten Nische an der linken Wand und setzt sich dort zielstrebig auf den vierten Stuhl von rechts. Den Koffer stellt er akkurat neben sich, dann faltet er entschlossen die Hände und senkt den Kopf.

…noch der hier abgebildete Kyoto Garden im Stadtteil Holland Park…

Irgendwie addiert sich die Konzentration, die er verströmt mit der Ruhe von uns anderen. Ich merke, wie ich tief atme, wohl hörbar, und auch das Atmen der anderen ist wahrnehmbar. Sehr intim und gleichzeitig so diskret, dass es nicht unangenehm ist. Jede Person hier drin ist in ihrem eigenen Raum der inneren Stille und teilt diese Stille doch mit den anderen um sie herum. Jeder ist mit sich und seinen Gedanken und Gefühlen oder vielleicht auch Gebeten bei sich und doch in Gesellschaft. Es ist schwierig zu beschreiben und auf eine Weise wohltuend, die ich bisher nicht kannte. Kein Vergleich zu dem Gutseinsdruck und den vermeintlich beobachtenden Blicken, die ich spüre, wenn ich hin und wieder einen Kirchenbau, katholisch oder reformiert, besuche und mich eine Weile in eine Bankreihe setze um den Raum auf mich wirken zu lassen. Dort empfinde ich fast immer Anspannung: meine und vielleicht auch die der anderen Besucherinnen und Besucher. Bloß nichts falsch machen und jemanden stören – oder von sich unpassend laut benehmenden Besuchern gestört zu werden und sich ärgern müssen. Kirchen machen mich neurotisch. Dieser Versammlungsraum hier offenbar nicht.

Die Leute, die reinkommen, scheinen mit der Stille unter Fremden vertraut zu sein und keine Scheu zu haben, sofort ihren eigenen, inneren Raum zu betreten, selbstbewusst, selbstverständlich und ohne Ängstlichkeit und Anspannung.

Wieder öffnet sich die Tür. Der Mann mit der Topffrisur kommt rein. Er lässt den Blick scheinbar beiläufig durch den Raum schweifen und steuert dann auf ein Laptop zu, das aufgeklappt auf einem Stuhl in meiner Ecke des Raumes steht. Irgendwie unangenehm laut klackert er eine Weile daran herum, ruckelt das Gerät hin und her, bis ich leichten Ärger in mir aufsteigen spüre. Was macht er da? Hätte er das nicht zu einem anderen Zeitpunkt tun können als jetzt, wo es hier gerade so schön friedlich und ruhig war? Nach ein paar Minuten geht er quer durch den Raum und setzt sich auf einen Stuhl in der hintersten Reihe. Na toll, jetzt habe ich ihn im Blickfeld. Geübt faltet er die Hände und senkt den Kopf. Aber er scheint nicht zur Ruhe zu kommen oder es auch nicht anzustreben. Er hat etwas von einem Jungen, der in der Kirche zum Stillsitzen gezwungen wird, aber innerlich hibbelt. Er senkt den Kopf tiefer, aber es hilft nichts. Schließlich schiebt er die Hände unter seine Beine. Die Unruhe wird etwas weniger. Ich schließe wieder die Augen und versuche die Anspannung auszublenden, die von ihm ausgeht. Bald finde ich wieder in meine Ruhe hinein. Als ich wieder auftauche und den Blick schweifen lasse, habe ich den Eindruck, dass er schnell den Blick von mir abwendet.

Die Tür öffnet sich erneut. Ich sehe Füße in riesigen, klobigen Turnschuhen, Beine in einer modernen Jogginghose und eine haarige Hand mit zwei großen Einkaufstüten. Schwer lässt sich der Besucher auf einen Stuhl auf der anderen Seite der Tür fallen, verfolgt vom Blick des Topffrisierten. Für mich sitzt der Neue hinter dem Türvorhang im toten Winkel und ich sehe nur seine Schuhe. Auch von ihm geht bald Stille aus und ich tauche wieder ab. Es ist eine Wohltat für die Nerven, die Augen, den Kopf, die Seele.

…ist so friedvoll wie ein Quäker-Meeting. (Das Bild hat nichts mit den Quäkern zu tun, stammt aber aus London)

Die Quäker sind eine christliche Religionsgemeinschaft aus England, die sich im 17. Jahrhundert bildete und an vielen Teilen der Welt Mitglieder hat. Sie glauben, dass jeder Mensch das Licht Gottes in sich hat und dieses durch sein Handeln wirken lassen soll. In der Stille soll der Kontakt zu diesem Licht – und zu seinem eigenen Gewissen – gestärkt werden. Quäker streben nach Einfachheit, stiller Einkehr und einem Leben mit aktivem Handeln für den Frieden. Prediger oder Heilige gibt es keine. Wer in einer Versammlung das spontane Bedürfnis hat, sein Erleben des Göttlichen mitzuteilen, kann dies ohne Ritual tun, sollte damit aber nicht übertreiben. Schon immer waren in den Gemeinden der Quäker Männer und Frauen gleichberechtigt. Der Name kommt vom englischen Wort für „beben“, weil manche Mitglieder die Empfindung des Göttlichen so aufwühlt, dass sie zu zittern beginnen.

Nach etwas mehr als einer Stunde legt sich scheinbar ein Schalter um. Ruckartig fühle ich mich erfrischt und kraftvoll wie nach einer langen Nacht mit gutem Schlaf. Ich habe unbändige Lust, aufzustehen und wieder mitten in London zu sein. Vorsichtig bewege ich die Füße, damit das Profil der Turnschuhe nicht auf dem Holzboden schmatzt. Ich gebe mir Mühe, keine unnötige Unruhe zu verbreiten und möglichst still herauszugehen. Der Mann mit der Frisur scheint nur auf diesen Augenblick gewartet zu haben. Wie ein Wiesel springt er auf der anderen Seite des Raumes auf und verlässt den Versammlungsraum durch die zweite Tür. Im Leseraum holt er mich ein und spricht mich an. „Sind Sie zum ersten Mal hier?“, flüstert er etwas hektisch, das überfreundliche Strahlen wieder angeknipst. Aber ich mag gerade gar nicht reden. „Ja, aber ich bin nur Touristin“, flüstere ich abweisend und wende mich ab. „Wir haben auch ein Online-Meeting“, sagt er, „da kann man von überallher teilnehmen“. Das war dann wohl der Grund, warum er so lange an dem aufgeklappten Notebook herumgedaddelt hat, fällt mir ein. „Ich bevorzuge echte Räume“, sage ich zickiger als ich wollte. Ruckartig lässt er von mir ab und verabschiedet sich. Inzwischen sind wir wieder im schmucklosen Eingangsflur. Die schüchterne Dame vom Anfang ist verschwunden, dafür sitzt jetzt eine Japanerin in einem langen Faltenrock an dem Tisch und zieht die Aufmerksamkeit des Mannes mit der Topffrisur auf sich. „Sind Sie zum ersten Mal hier?“, höre ich ihn fragen.

Auf der St Martin’s Lane strahlt immer noch die Abendsonne. Es ist Freitagabend, die lärmenden Pulks vor den Pubs, durch die ich mich auf dem Hinweg von der U-Bahn durchschlängelte, haben sich vergrößert und dröhnen dreimal so laut und zehnmal so fröhlich. Bruhahahahahihihihihöhöhöhöhhehehehehehehahaha. Feierabend, Wochenende, Partytime in Covent Garden, alle scheinen lebensfroh und voller Spannung auf die Nacht. Sehr schön, aber heute nicht für mich. Die Stille, die ich getankt habe, umgibt mich wie einen Schalldämpfer, der Lärm der Stadt bleibt heute auf Distanz. Nur wenige Minuten durch die erwartungsvollen Menschentrauben, dann bin ich wieder an der U-Bahnstation am Leicester Square und fahre nach Battersea in unser Zuhause auf Zeit. Für HerrBert, der heute den ganzen Tag auf einer Messe gearbeitet hat, gibt es Steak und Salat und bis er da ist, genehmige ich mir auf dem Balkon einen Cider und freue mich. Es hat sich mal wieder gelohnt, durch eine unbekannte Tür zu treten. (September 2023)

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