Neulich war der Tag, an dem die Reiserin ihre schwarze Vampirella-Langhaarperücke aus der Kiste holte, die Schere ansetzte und beherzt den Pony kürzte. So ganz passend ist die Farbe nicht, aber Pony muss sein. Kate Bush trug 1978 nun mal Stirnfransen. Für die Fahrt mit der U-Bahn bleibt die Perücke aber noch in der Tasche.
An der Eisenacher Straße steigen Lynn und John ein, ein Freundespaar. Lynn trägt, wie die Reiserin, bereits ein wallendes, leuchtendrotes Kleid. John murmelt, dass er sich nachher umzieht. An der Möckernbrücke steigen wir in die krachend volle U3. Auf einer der Bänke sitzt eine Person in ebenfalls leuchtend rotem Kleid mit schwarzem Gürtel. „Hat bestimmt denselben Weg wie wir“, murmelt John. „Oder vielleicht auch nur Zufall.“ War dann nur Zufall, denn die Person bleibt sitzen, während wir am Görlitzer Bahnhof aussteigen. Mindestens ein Dutzend der Fahrgäste trägt: wallende, knallrote Kleider mit schwarzem Gürtel, vereinzelt eine rote Blume hinterm Ohr. Und auch unten auf der Skalitzer Straße stehen welche in diesem Outfit. Wir setzen uns in Bewegung in Richtung Görli.
Beim Eingang steht Polizei und laute Musik wummert. Sehr, sehr laute Musik. Eine Hippiefrau auf einem Fahrrad kommt uns strahlend entgegen: „Demonstriert ihr auch gegen die Musik?“. – „Nein“, murmelt John, „wir sind für etwas anderes hier.“ Neben den üblichen Parkbesuchern, traditionell meist nicht vom Typ Schwiegermutterliebling und Bankangestellte, sind auffallend viele Menschen in knallroten, wallenden Gewändern unterwegs. So viele, dass die üblichen Parkbesucher schon ganz schön komisch gucken. „Was die wohl über uns denken?“, fragt Lynn. „Die denken, wir gehören zu einer Sekte“, murmelt John.

Ein kräftiger Mann in wallend rotem Gewand, das seinen imposanten Bauch hervorblitzen lässt, lächelt uns freundlich an und weist in die Parkmitte, weg von dem brüllend lauten Technobeat, der von einem einsamen DJ auf einer improvisierten Kanzel am Eingang des Parks abgefeuert wird, um gegen die geplante nächtliche Schließung des Parks wegen zu viel böseböse zu demonstrieren.
Und tatsächlich, in der Mitte des Görli, da, wo die große Senke liegt und das merkwürdige Metall-M steht, warten jetzt sehr viele Menschen in roten Gewändern mit schwarzem Gürtel. Dann geht es auch schon los. „Rehearsal“, ruft eine Frau, auch sie in wallendem Kleid und mit einer üppigen braune Haarmähne mit Pony, die sich erst später als Perücke entpuppt. Sie begrüßt uns offiziell zum diesjährigen „Most Wuthering Heights Day Ever“ in Berlin. So heißt ein inoffizieller Anlass, der seit 2016 überall in der westlichen Welt und immer im Juli, dem Geburtsmonat der britischen Sängerin Kate Bush, abgehalten wird. Kate Bush schaffte den Durchbruch 1978 mit einem exzentrischen Video zu ihrem Song „Wuthering Heights“. Darin performt die damals 19jährige auf einer Waldlichtung in der nun schon bekannten Kostümierung einen selbst choreographierten, ziemlich wilden Ausdruckstanz: augenrollend, die Beine werfend und Hände in den Himmel reckend.

Wir brauchen dafür zuerst eine Übungsstunde, denn die Choreographie ist so durchgeknallt, dass sie nur sehr begabte Menschen intuitiv nachtanzen können. Inzwischen hat sich auch John in sein frisch Second Hand erworbenes, rotes, wallendes Kleid geworfen und den schwarzen Gürtel umgelegt. Die nächste Stunde üben wir, ungefähr zu hundertfünfzigst, konzentriert komplexe Moves mit Namen wie „Servier den Teller“, „Rückwärts laufender Pterodactylus“ und „Die unmögliche Beuge zurück“. Heiß brennt die Sonne auf die Perücken, angeleitet werden wir von der Australierin Samantha, die den Anlass in Berlin seit neun Jahren veranstaltet – mit zimmerlautstarker Musik und ohne Mikrofon. Nur so gilt es als „Flashmob“, als spontane und unkontrollierte Versammlung. Mit mehr Ausrüstung wäre es ein Straßenfest, und das bräuchte eine Bewilligung für 3000 Euro, wie sie uns später erzählt. Aber an Geld will hier niemand denken, das hier ist reiner Spaß.

Noch eine Durchlaufprobe, und dann wird gefilmt. Hinterher auf den Filmchen ist zu sehen: das Wedeln und Augenrollen sitzt. Nach knapp zwei Stunden ist der Spaß vorbei, die Dichte an roten, wallenden Kleidern mit schwarzen Gürteln im Görli reduziert sich schlagartig, nur noch ein paar verstreute Kate Bush-Huldigende sitzen herum und kühlen sich mit Rotkäppchen-Sekt ab. Als wir uns auf den Weg in den Abend machen, hat die übliche Görlibevölkerung längst wieder die Mehrheit, und auch der DJ ist nicht mehr alleine, denn um ihn herum wird in Panzerlautstärke protestgeraved. Soll der Görli nachts geschlossen werden? Schwer zu sagen. Not our Circus, not our Monkeys.
Song des Tages: Wuthering Heights von Pat Benatar
Die Coverversion der amerikanischen Rocksängerin von 1980 bleibt nah am Original von Kate Bush – und wirkt trotz den schweren Gitarren ein wenig temperamentlos. Das Aufmacherfoto zeigt Kate Bush beim Move namens „Loved you too“, es ist, wie das mittlere Bild im Beitrag, ein Still aus dem originalen Musikvideo zu „Wuthering Heights“, Version 2. Es gibt noch eine Version 1 ohne Wald und mit weißem Kleid.
