Heute eine kleine, wahre Geschichte aus Berlin:
„Stört es, wenn ich telefoniere?“, fragt der Fahrer. Die Reiserin ist gerade in den Wagen eingestiegen, heute bitte keine U-Bahn mehr. Aber nein, sagt sie, und liest im Handy weiter. Leise und nachdrücklich spricht der Fahrer in einer Sprache, die sie nicht versteht, seufzt, hört scheinbar lange zu, seufzt wieder.
Irgendwann ist das Gespräch wohl zuende, denn als die Passagierin kurz den Blick hebt, um aus dem Fenster zu sehen, beginnt er ein Gespräch über das Wetter. Es pladdert es in Strömen, endlich mal wieder. „Mal kalt, mal heiß, man weiß nie“, sagt er und die Reiserin stimmte zu. Das düstere Regenlicht bringt Aprilstimmung, aber gleichzeitig ist zu spüren, dass der warme Sommer unter der Wolkendecke lauert. Kurz sprechen sie über den Regen, und dass er gut ist für die Bäume und den Boden.


Das Gespräch erstirbt wieder, dann sieht der Fahrer in den Rückspiegel, bis es ihr auffällt und sie den Blick hebt. Er sagt „Meine Frau ist krank“ – „Ohje“, murmelt die Reiserin. „Das tut mir leid. Etwas Schlimmes?“
Der Fahrer sucht nach Worten, es ist nicht leicht auf den Punkt zu bringen, aber nach ein paar Sätzen glaubt sie zu verstehen. Die Frau des Fahrers hört Stimmen von Menschen, die nicht existieren. Sie sprechen aus ihrem Mund, dann ist sie jemand anderes als sonst. Vor Jahren hatte sie es schon einmal, dann war lange gut, und jetzt ist es wieder sehr schlimm. In Berlin sind sie noch nicht lange, sie haben vier Kinder, 14 das älteste, 3 das kleinste, und er muss arbeiten und die Frau ruft immer wieder an und er weiß, dass es sehr schlecht steht zuhause.
Er sagt nicht, dass sie Stimmen hört. Er sagt, ein Dschinn spricht aus ihrem Mund, ob die Reiserin wisse, was das ist. Die sucht hastig ihr Hirn ab. Dschinns, das sind doch Dämonen aus dem Orient, wenn sie sich richtig erinnert. So etwas wie Geister?, sagt sie. Der Fahrer nickt und schüttelt den Kopf. Ja, nein, keine Geister, anders. Dschinn. Es stehe schlimm um die Frau, der Dschinn spricht aus ihr, es hört nicht auf.
Ob sie einen Doktor haben, der ihr helfen kann, fragt die Reiserin. Der Fahrer schüttelt den Kopf. Nein, ist schwierig, die Frau spricht kein Deutsch. Welche Sprache?, fragt die Reiserin. „Farsi“, sagt der Fahrer. „Persisch“. Ob es andere Leute gibt, die helfen können, Freunde, Verwandte? Nein, sagt der Fahrer. Sie haben niemanden hier. Und er muss immer arbeiten, er weiß nicht, wo er nach Hilfe fragen soll.

Was hat damals geholfen?, fragt die Reiserin. Der Fahrer schaut erstaunt, denkt nach. „Mullah“, sagt er dann. „Hat mit ihr im Koran gelesen.“ Aber hier haben sie keinen Mullah, alleine lesen hilft ihr nicht. Einmal, sagt er, war er mit ihr im Krankenhaus, in der Notaufnahme. Aber da habe sie nur Tabletten bekommen, die wollte sie nicht nehmen. Die Reiserin verstummt, weiß nicht, was sie noch sagen soll. Kurz darauf ist das Ziel erreicht. Alles Gute, wünscht sie dem Fahrer, und auch seiner Frau, er verabschiedet sich bekümmert.
Am nächsten Morgen hat die Reiserin eine winzige Idee. Sie sucht nach psychologischen Praxen, wo man Farsi spricht. Es sind gar nicht so wenige in Berlin. Eine Nummer wählt sie aus, zufällig, aufgrund des sympathischen Fotos der Ärztin. Auf dem Handy sucht sie nach einem Kontakt zum Fahrer, eine Nummer von ihm hat sie nicht. Sie nimmt das Formular für Gegenstände, die man im Wagen vergessen hat. „Wir haben über Probleme in Ihrer Familie gesprochen“, schreibt sie, und den Namen und die Telefonnummer der Praxis. „Es ist eine Frau Doktor“, schreibt sie dazu. „Sie spricht Farsi“ – „Wir informieren deinen Fahrer“, verspricht die App.
Erleichterung kommt nicht auf. Ob der Fahrer die Nachricht bekommt? Ob er damit etwas anfangen kann? Ob er bei der Praxis anruft? Ob jemand dort ihn und sein Problem versteht? Ob das ein völlig sinnloses Hilfsangebot ist, das komplett am Problem dieser Familie vorbeigeht? Wie hoch sind die Chancen? Jetzt seufzt auch die Reiserin. Warum ist das Leben so oft so unnötig schwer? Warum wissen wir anderen so selten zu helfen, und fast nie, wenn sie nicht aus der genau gleichen Lebenswelt kommen wie wir?

Song des Tages: Djiin von Sahalé
Ein Dschinn ist ein Geisterwesen aus dem orientalischen Kulturraum. Es kann sowohl gut als auch böse sein und steht für eine eigene, unsichtbare Sphäre der Welt. Dieses atmosphärische Stück stammt von dem französischen Musiker Dimitro Wolski alias Sahalé. In Teheran waren wir noch nie. Das Aufmacherfoto zeigt die Moschee im ägyptischen Hurghada, das untere Bild ein Detail aus dem alten Capitol in Baton Rouge, Louisiana. Inhaltlich gibt es keinen Zusammenhang zu diesem Beitrag.
