Männliche Person mit Cowboyhut, kariertem Hemd und Jeans lehnt lässig an Backsteinwand zwischen zwei Türen mit Rauchverbotsschildern. Innenreum mit schummrigem Licht.

Das ganze Festivalprogramm konnten wir uns gestern nicht reinziehen, es begann schon am Mittag und sollte bis fast um Mitternacht dauern. Am späten Nachmittag trudelten wird dann aber ausgeruht wieder auf dem Festivalgelände ein und freuten uns auf den Tag. Wir hörten noch die letzten Takte der famosen Pert Near Sandstone und stellten zum ersten Mal an diesem Tag fest, dass es sehr wohl möglich ist, zu Bluegrassmusik, genauer gesagt zu einem extrem schnell gespielten Banjo, Head zu bangen – oder zu headbangen? Genau das taten nämlich die sechs Musiker auf der Bühne bei ihrem Finale, der Mann am akustischen Kontrabass zeigte noch den Heavy Metal-Pommesgabelgruß, und das ekstatische Publikum tat es ihnen nach.

Der nächste Act war eine Singer-Songwriterin namens Michele Stodard. Intensiv und kraftvoll sang sie ihre sensiblen Songs über Selbstermächtigung und brachte das Publikum ganz ohne Headbangen zum Jubeln – und zum Stillsein. Ihre Ansagen machte sie nämlich so souverän leise, dass niemand in der Halle schnatterte, denn sonst verstand man sie nicht.

Michele Stodard am Static Roots Festival 2025

Die Umbaupause nutzten wir, um am asiatischen Essensstand Gemüsecurry und Satay zu ordern. Jedes Gericht wurde einzeln liebevoll nach Hausfrauenart zubereitet, was natürlich etwas dauerte. Aber Stress und Hektik sind am Static Roots Festival in Oberhausen auch am zweiten Tag nicht auf dem Plan. Während die Reiserin wartete, drängelte sich ein junges, vermutlich obdachloses und ziemlich bedröhntes Wesen vor und fragte nach etwas zu Essen. „Mach ich dir gleich“, sagte der Mitarbeiter und auch das Wesen stellte sich geduldig an die Seite, um dort in der Wartezeit diskret das Körbchen mit den Bonbons zu plündern, die zum Nachtisch bereitstanden. Als es dann eine großzügige Portion Reis mit Curry bekam, fragte es nach „Joghurt oder Tzatziki“, was aber hier leider nicht im Angebot war. Macht nichts, befand es und bedankte sich höflich.

Währenddessen ließ HerrBert das Festivalgeschehen im Biergartenbereich auf sich wirken. Die Pert Near Sandstone hatten in Windeseile ihre Instrumente eingepackt und hielt noch etwas Hof. Immer wieder kamen Fans und andere Musiker, ein munteres Geplauder in großer Fröhlich- und Freundlichkeit. Genauer gesagt war die Freundlichkeit und Positivität so auffallend, dass zu vermuten war, dass hier auch bewusst Tatsachen geschaffen werden sollten: Die Welt ist so hartkantig und schmerzhaft, es braucht auf Zeit eine kleine Insel mit anderen Regeln, und die wurde hier nun geschaffen.

„Ach, jetzt hätte ich Lust auf ein Stück Kuchen“, seufzte die Reiserin, als wir mit dem asiatischen Teil zu Ende waren. HerrBert guckte skeptisch. Aber neben dem Burgerwagen, wo auch jetzt wieder im Akkordtempo gebraten wurde, war heute ein neues, kleines Zelt aufgebaut – mit einem Kuchenbuffet. „Genau das, was ich mir gewünscht habe“, staunte die Reiserin und bestellte sogleich ein Stück Bratapfel-Vanille. Wenn Wünschen bloß immer so leicht wäre.

Ihr wird eine große Zukunft vorhergesagt: Pearl Charles

Nun stand eine Musikerin auf dem Programm, der vom Moderator eine große Zukunft vorhergesagt wurde: Pearl Charles. Munter wie eine Grundschullehrerin, mit einer wirklich wunderschönen, glockengleichen Stimme gesegnet und in ein Kleid gehüllt, das an die amerikanische Flagge erinnerte, die aber durch gelbe Fransen zu brennen schien, trat Pearl Charles zunächst mit einer akustischen Gitarre auf, hinter der sie wohldosiert wippte. Die Begleitmusiker, unter anderem ein Bassist, der mit seinem lässig offenen Hemd und den gekonnt strähnigen Haaren in der Tradition des Dude aus dem Film „The Big Lebowski“ zu stehen schien, sowie einem fast schon beunruhigend strahlenden Gitarristen mit Italodisco-Bräune, machten knackigen Sound. Später wechselte Pearl ans E-Piano, wo sie ebenfalls hervorragend aussah. Trotzdem sprang der Funke nicht richtig über. Irgendwie zu glatt, zu kontrolliert, zu gekonnt. Oder zu gewollt? „So würde es klingen, wenn Luisa Neubauer Countryrock spielen würde“, meckerte die Reiserin aus unerfindlichen Gründen.

Das Meckern war vergessen, sobald Uncle Lucius aus Austin, Texas auf der Bühne standen: siebenköpfiger, satter Soulrock mit einem kraftvollen Sänger und einem vor Freude strahlenden, hyperschnellen Keyboardspieler, dessen Lockenmähne so euphorisch durch die Gegend flog, dass HerrBert sich an Rowlf erinnert fühlte – die Figur aus der Muppet-Show, die beim In-die-Tasten-hauen immer so begeistert die Schlappohren schüttelte. Der Schlagzeuger hatte eine Frisur im Stil von Bob Ross und der Gitarrist erinnerte sowohl optisch als auch musikalisch ausgesprochen stark an David Crosby. Hellste Begeisterung.

Peter Coyne, der einzig verbliebene Originalgottvater

Und dann war Zeit für den letzte Act des zweitätigen Festivals: die Godfathers aus England. Bereits der Soundcheck verhieß, dass es nun vorbei ist mit lyrischen Gitarren und heiteren Banjos. Es folgte sattester Brüllrock mit düsterer Achtzigerjahrpower. Bei den Godfathers ist die Lister der ausgeschiedenen Mitglieder, von denen nicht mehr alle irdisch unterwegs sind, wesentlich länger als die der aktiven Musiker, aber der Sänger Peter Coyne war auf jeden Fall noch am Start. Inzwischen 65, hat er die Ausstrahlung des Punkrock-Rebellen gegen die Gereiztheit eines ziemlich wachsamen Rentners getauscht, der schon sehr lange mit der Gesamtsituation unzufrieden ist, und dem man deshalb besser nicht blöd kommt. Der Gig war energetisch, das Publikum tanzte und headbangte ganz ohne Banjo. Nach dem letzten Stück, natürlich der Tanzbodenkracher „Birth School Work Death“, rief vermutlich das Sauerstoffzelt, und die friedliche Vorgabe des Festivals blieb unbescholten. Glatze hatte übrigens keines der Bandmitglieder – HerrBert hatte gestern also umsonst heimlich fotografiert.

Auch wir waren jetzt durch. Mit dem Roller düsten wir durch die menschenleere Stadt nach Hause und machten immer wieder Halt, um einige der wunderlichen Gebäude, auf denen Leuchtschriften wie „Glück auf!“ oder „Oberhausen – Wiege der Ruhrindustrie“ strahlten, zu fotografieren. Über seine Eindrücke aus der untergegangenen westdeutschen Schwerindustriemetropole wird HerrBert gesondert berichten. (Nachtrag: Jetzt hier zu lesen.) „Roots Music to fill your soul“ ist das offizielle Motto des Static Roots Festival, das für dieses Jahr zu Ende ist. Bei uns hat es funktioniert. Danke!

Song des Tages: Before the Fall von The Southern Fold

Zu den melancholischen Klängen fuhren wir an regengrauen Sonntagmorgen durch Oberhausen, und es war der perfekte Soundtrack für die irgendwie trübsinnig leere Stadt, deren Untergang man weniger sieht als spürt.