Mann in Anzug sitzt am Flügel, umgeben von Noten auf Teppichboden. Der Mann ist der australische Musiker Nick Cave.

Die Reiserin heulte wie ein Schlosshund. Aufgelöst wedelte sie die Nachbarin weg, die ihr diskret ein Papiertaschentuch hinhielt. Sie verbarg ihr Gesicht und schniefte so unauffällig sie konnte. Erst später, als sie wieder einigermaßen gefasst war, konnte sie sich bei der freundlichen Frau nebenan bedanken.

Was war geschehen? Das fragte HerrBert auch.

Wir befanden uns in der allerobersten, allerhintersten Reihe der Elbphilharmonie in Hamburg und blickten von hoher Höhe auf die Hände und den Scheitel des Musikers Nick Cave, der gerade sein ausverkauftes Konzert begonnen hatte. Das konnte ja heiter werden!

Die Elbphilharmonie in Hamburg: kauziges Gebäude, aber die Akustik ist auch an den hintersten, obersten Plätzen super.

Die Tickets hatten wir schon seit Monaten. Genauer gesagt, seit Ende Januar, als angekündigt wurde, dass der australische Obergrufti in Deutschland einige wenige Konzerte geben würde – akustisch am Piano und nur begleitet von Colin Greenwood, dem Bassisten unter anderem von Radiohead und auch von Nick Caves Dauerband The Bad Seeds. „Das wird gleich ausverkauft sein“, unkte die Reiserin und stellte sich den Wecker, um pünktlich zur Eröffnung des Vorverkaufs online zu sein. HerrBert tat das gleiche.

1600 Plätze hat der große Saal der Elbphilharmonie. Nach vier Minuten waren sie ausverkauft. Die Reiserin schlug vor Empörung mit dem Kopf auf die Tastatur, doch HerrBert war nicht bereit, schon aufzugeben. Zwei Minuten später sein Triumphgeheul: Er hatte noch zwei Karten ergattert – offenbar ungefähr die letzten zwei im Saal, denn sie lagen, wie ein Blick auf den Plan ergab, in der 16. Etage des fast nur aus Balkons bestehenden Saales, buchstäblich direkt unter dem Dach. Egal. „Gucken wir halt auf Nick Caves Hinterkopf“, meinte die Reiserin und gratulierte HerrBert zu seinem Jagdglück.

Gleich sind hier Nick Cave und Colin Greenwod zu sehen

So schlecht waren die Plätze dann aber nicht. Zwar sah man die zunächst leere Bühne, auf der nur zwei kleine Monitore und ein Konzertflügel standen, von sehr, sehr weit oben. „Ungefähr wie von einer Drohne“, sagte die Reiserin. Aber als Cave dann pünktlich um 20 Uhr unter tosendem Applaus die Bühne betrat, waren nicht nur sein Gesicht und seine charakteristische, hagere Gestalt sehr gut zu erkennen. Die Akustik in dem Saals ist ohnehin spektakulär, und man hörte jeden Atmer von Cave. Das war oft der Fall, denn sobald er am Piano saß, waren die 1600 Menschen still wie ein staubiger Nachmittag im australischen Hinterland, wo Cave herkommt.

Der Großmeister der maximalmelancholischen Düsterballade wirkte bestens gelaunt und begrüßte erstmal fröhlich in alle Richtungen winkend das Publikum. „Nach oben guckt er natürlich nicht“, murmelte HerrBert etwas resigniert, aber da legte Cave in seinem schwarzen Konfirmandenanzug auch schon den Kopf in den Nacken und winkte auch den obersten Reihen zu. Begeistert winkten wir zurück.

Der Meister winkt auch in die oberen Ränge. Die Notenblätter wirft er nach jedem Stück theatralisch auf den Boden. Auf dem kleinen Tischchen hat er auch einen Kamm liegen, damit die Tolle sitzt

Und dann ging es los. Konzentriert, mit sonorstmöglicher Stimme und souveräner Stimmkraft, dabei präzise und von Greenwood zurückhaltend begleitet, sang und spielte Cave seine Klagelieder: „Girl in Amber“, „Higgs Boson Blues“ und „Jesus of the Moon“ standen am Anfang der Setlist.

Cave begann seine Karriere in den 1980er Jahren mit der Gründung seiner ersten Band. Berühmt und legendär wurde er mit den Bad Seeds. Er sprach jeglichen Drogen, darunter auch Heroin, intensiv zu, und spielte entsprechende Musik: Schmerz, Tod, Verderben, Untergang und Suche nach Gott, alles in tieftraurige Melodien gefügt. Später, als er längst solider geworden war, ereilten ihn schwere familiäre Schicksalsschläge. 2015 starb einer seiner Zwillingssöhne im Alter von 15 Jahren, als er unter dem Einfluss von LSD von einer Klippe in Brighton fiel, wo die Caves damals lebten. Sieben Jahre später, inzwischen war man nach Los Angeles umgesiedelt, starb ein unehelicher Sohn von Cave im Alter von 31 nach psychischer Krankheit.

Aber nicht nur die Schicksalsschläge schwangen jetzt in der intensiven Bühnenpräsenz des heute 67jährigen mit – sondern auch sein bodenständiger, australischer Humor. Zwischen den melancholischen Hämmern scherzte er mit dem Publikum, nahm den offenbar angekündigten Brief eines weiblichen Fans entgegen, der von ihr eigenhändig zur Bühne gebracht wurde, und wirkte alles in allem so durchs Feuer gegangen, vom Schmerz geläutert und bei seinem inneren Frieden angekommen, dass zumindest die Reiserin, die ihn früher für einen musikalisch großartigen, aber auch ziemlich arroganten Fazke hielt, geradezu andächtig vor seinem Künstlertum und seiner Wirkung auf das ebenfalls völlig gebannte Publikum stand. Jedenfalls nachdem die Tränen der ersten Hälfte getrocknet waren. Da warf sie der Meister nämlich genau durch diese dramatische Bühnenintensität und die existentielle Melodramatik seiner Musik – live um ein vielfaches stärker als auf Tonträger – nochmal zurück in die Zeit, als sie selbst noch ein vom Leben gemarterter Teenager mit düsterer Grundausstattung war.

Als alles vorbei war, stellten wir uns an dieser kürzesten Nacht des Jahres auf die Terrasse der architektonisch ziemlich kauzigen Elbphilharmonie und schauten aufs Wasser. „Das Schönste am Leben ist, dass es immer weitergeht“, hatte es ein anderer Musiker, Marius Müller-Westernhagen in einem Film gesagt. Nick Cave, natürlich ein anderes Kaliber, bestätigte das an diesem Abend auf großartige Weise. Danke!

Das Schönste am Leben: Es geht immer weiter. Blick von der Terrasse der Elbphilharmonie in Hamburg


Song des Tages: The Mercy Seat von Nick Cave

Dieser Song von Cave, der auch von Johnny Cash gecovert wurde, zeigt in dieser akustischen Version die ganze pathetische, musikalische Kraft von Nick Cave.