Take the long way home – Abschied von Kopenhagen

Halbvolles Bierglas auf einem Holztisch im Freien neben Blumentöpfen mit pinken Blumen, im Hintergrund Fahrräder und Gebäude in Kopenhagen im Sonnenschein mit freundlichen Wolken

Oder: Das Leben in vollen Zügen genießen (falls sie fahren)

Die letzten Stunden in unserem Appartment in Kopenhagen: Da hatte die Zeit noch Bedeutung

Mittwoch, 14.15 Uhr:

„Ach nee!“ Die Begeisterung der Familienmutter ist fast grenzenlos, als die Reiserin schüchtern am 6er-Abteil ankommt, wo sie und der HerrBert ihre Plätze reserviert haben. „Da kommen jetzt bestimmt noch mehr!“ ruft sie anklagend zu ihrem Mann. Hinter einem großen Berg aus Kinderrucksäcken, Teddys und Spielzeug, der auf dem Tisch in der Mitte verteilt ist, schauen zwei Kinder mit großen Augen auf die Szene. „Soll ich mit dem Koffer helfen?“, der Mann macht gute Miene und wuchtet das Gepäckstück der Reiserin ins Fach, schiebt dabei dezent das Gepäck seiner Familie zusammen. Bereits steht die nächste Reisende an der Abteiltür und weist schüchtern darauf hin, dass auch sie hier reserviert hat. Wutschnaubend rauscht die Familienmutter aus dem Abteil. Ihre Strategie „Sich erstmal im Abteil breit machen und hoffen, dass die Leute, die eine Reservierung haben, nicht auftauchen“, geht ganz offensichtlich nicht auf. Der Zug ist voll. Und sie haben keine Reservierung. „Ging irgendwie dann nicht mehr“, sagt der Familienvater entschuldigend und wuchtet unausgesetzt die nächsten Gepäckstücke hoch und die seiner Familie dafür runter. Kurz vor Abfahrt hat die Mutter die Kinder und sämtliche Teddys, Rucksäcke, Jacken, Spielsachen und Kinderbücher wieder eingesammelt und bringt die Familie irgendwo anders unter. Von fern hallt noch lange ihr anhaltendes Wutschnauben über den Flur.

„Uff, ganz schön heiß hier“, konstatiert eine der Fahrgäste. Da hat sie recht. Im Abteil herrschen ungefähr 45 Grad. Der Klimaschalter ist auf Minusgrade eingestellt, aber das bringt nichts, wie eine der anderen Passagierinnen anmerkt. Sie fahre hier jeden Monat. „Ist entweder brüllend heiß oder eiskalt, kann keiner was machen.“ Vielleicht ein Nostalgiefeature der Deutschen Bahn, in deren Wagen wir sitzen? Fühlt sich jedenfalls an wie damals beim Interrail im August in Süditalien, als Klimaanlage im Zug bedeutete, dass man das Fenster aufmachte. Nur, dass das hier leider nicht geht.

Vor dem Fenster ziehen die dünnen Laubwälder des Nordens vorbei, der Schweiß läuft in Strömen und vorher kam ein Angstellter der Dänischen Bahn mit einer Art Bauchladen, den er mit etwas kombinierte, das wie ein Raketenrucksack aussah und sich als mobiler Heißwassertank entpuppte, mit dem er auf Wunsch Kaffee zubereitete. Lesen Sie in der nächsten Folge: Wie wir einmal die Klimaanlage der Deutschen Bahn auf MacGyver-Art (fast) reparierten.

Deutsche Bahn: Natürlich ist Klimaanlage an Bord

15.15 Uhr:

Inzwischen ist in unserem menschlich-warmen 6er-Abteil das Sauna-Koma eingetreten. Alle Reisenden haben sich ihrer Oberbekleidung so weit entledigt, wie es in dieser Situation gesellschaftlich akzeptabel ist. Ein Mitarbeiter der Dänischen Staatsbahn schmeißt wortlos Tetrapacks mit körperwarmem Wasser auf die Tische. „Kühlt es?“, fragt eine Frau im Abteil ihre heranwachsende Tochter, die seit unserem Start in Kopenhagen mit gequältem Gesicht dasitzt. „Lebensmittelvergiftung, gestern“, ließ sie uns schon beim Einsteigen wissen. Könne sein, dass sie zwischendurch raus müsse – das sollte dann eher schnell gehen, wie sie anmerkt. Die Reiserin bietet ihr ihren Platz direkt an der Tür an. Bisher hält die junge Frau tapfer durch. Aber ein klein wenig erhöht die Wahrscheinlichkeit einer Übelkeitsattacke natürlich schon die Spannung im Abteil.

Das Wasser kühlt kein bisschen. Die junge Frau geht kurz raus. „Am Fenster geht es“, sagt sie. Und tatsächlich, jenseits der altmodischen Klapptür, die den Gang mit den Abteilen vom Eingangs- und WC-Bereich des Wagens trennt, gibt es auf beiden Seiten des Wagens je ein kleines Fenster, das sich aufklappen lässt. Die Reiserin hat eine Idee. „Hast du Strippe dabei?“, fragt sie HerrBert, der neben ihr in kontemplativer Ruhe sitzt und sich nicht von der Aufregung anstecken lässt. „Hä?“, fragt er. Wenn die Reiserin Ideen hat, schätzt er die Anmoderation. Aber dafür ist jetzt keine Zeit. „Strippe“, wiederholt sie. „Schnur. Damit man die Tür an beiden Enden öffnen und festbinden kann.“ Dann zieht es durch den Gang und das senkt vielleicht ein bisschen die Temperatur in den Abteilen. „Hm“, HerrBert ist skeptisch. Ist doch viel zu kompliziert. „Da packste unten einen Stopper rein“, sagt er. Die Reiserin ist beeindruckt. Stimmt, ist viel einfacher, bringt dasselbe Resultat, und ist zur Not auch mit einem alten Taschentuch zu machen.

Ächzend setzt HerrBert sich in Bewegung und packt das erste Taschentuch unter die geöffnete Tür. Da kommt schon ein Zugbegleiter angerannt. In der Hand hält er eine Rolle bahneigenes Klebeband – er ist auf dieselbe Idee gekommen wie die Reiserin. An der Umsetzung hapert es, weil er keine Schere mit sich führt, um das Klebeband zu schneiden. Da kann HerrBert einspringen: An seinem Schlüsselbund baumelt eine kleine Klappschere für alle Fälle. Danach ist die Reiserin stolz wie Bolle. Die nächsten zwanzig Minuten weht ein leichter Durchzug durch den Gang und vermag die gefühlte Innentemperatur der geöffneten Abteile von 45 auf 44,8 Grad zu senken. Freude herrscht. Und nur noch ungefähr vier Stunden bis Hamburg.

Verpassen Sie nicht die nächste Folge, wenn es heißt: Warum zehn Minuten später leider trotzdem alle Passagiere den Wagen fluchtartig verlassen und danach eine halbe Stunde mit Sack und Pack orientierungslos in der dänischen Provinz auf einen Bus nach Hamburg warten, der vielleicht oder vielleicht auch nicht kommt.

Irgendwo in Dänemark: Wenigstens keine 45 Grad Innentemperatur mehr

17.15 Uhr:

Die gute Nachricht: Irgendwann kam tatsächlich ein Bus und ein schalkhafter Mitarbeiter der dänischen Bahn warf sich mit gespreizten Armen in die wartende Menge und rief: No Hamburg! Weil nämlich an der zugigen Ecke vor dem Bahnhof noch ein anderer monstergroßer Vikingbus-Reisebus anlandete, der aber ganz woandershin fuhr, und wir uns auf keinen Fall mit dem dortigen Wartekollektiv mischen sollten. „Hamburg Bus five minutes“ verhieß der Däne. Und ein paarmal fünf Minuten später hielt dann tatsächlich unser ganz eigener Viking Monsterbus. „Siehste“, sagte HerrBert und faltete sich in die engen, aber einigermaßen bequemen Sitze. Wir hatten uns richtig entschieden.

Davor standen wir nämlich am Scheideweg der Möglichkeiten. Unser überhitzter, uralter 1. Klasse-Wagen wurde trotz der MacGyver-Klimaanlagenlösung geräumt und zugesperrt. „Macht die DB immer so“, informierte uns die erfahrene Reisende, die jeden Monat auf dieser Strecke fährt. „Wenn die Klimaanlage ausfällt und jemand umkippt, befürchten die eine Klage, darum wird dann immer der Wagen geräumt“, meint sie noch. Na toll. Die Alternativen, die uns der dänische Zugbegleiter freundlich anbot, lauteten: In diesem Zug weiter bis Hamburg fahren, jetzt aber in der pickepackevollen 2. Klasse. „Sie werden dann stehen müssen“, sagt er freundlich. Vier Stunden lang. Oder wir verlassen jetzt gleich am nächsten Halt den Zug und warten dort auf den Bus, der irgendwann wahrscheinlich kommt und uns nach Hamburg mitnimmt. Dauert wahrscheinlich länger als vier Stunden wegen Verkehr, und nein, den Anschluss nach Berlin werden wir auf diese Weise „auf keinen Fall“ erreichen. Aber das ist auch so, wenn wir in diesem Zug bleiben. Der wird nämlich auch beachtlich verspätet ankommen.

Gehen oder bleiben? Nach einem kurzen Blickwechsel ist klar: Bus. Auf die Uhr gucken wir seither nicht mehr. Wenn wir irgendwo sind, nehmen wir die nächste Etappe in Angriff, der Rest wird sich zeigen. Reisen wie zu Goethes Zeiten. Zwischendurch noch irgendwelche Bescheinigungen holen, um später Fahrgastrechte geltend zu machen. „Ich hab ja die ganze Fahrt mit Fahrgastrechteentschädigungen bezahlt, die ich von früheren Fahrten gekriegt habe“, sagt eine der Mitreisenden. Die Reiserin kichert. Sie auch. Jetzt fahren wir in Richtung Berlin, draußen zieht die Dunkelheit vorbei, und irgendwann, bevor die Sonne wieder aufgeht, sind wir hoffentlich zuhause.

Kopenhagen ist eine Stadt für Feinschmecker